Mammut-Orpheus auf chinesisch

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Mit "Mudan Ting" zeigen die Wiener Festwochen eine traditionelle chinesische Oper.

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Mit "Mudan Ting" zeigen die Wiener Festwochen eine traditionelle chinesische Oper.

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Extrem artifiziell, wie es wohl auch die Barockoper einst war, dann wieder so volkstümlich, dass es an die Löwinger-Bühne gemahnt: Fraglich, ob man als westlicher, mit der chinesischen Tradition nicht vertrauter Kritiker adäquat die künstlerischen Aspekte des Mammut-Werks "Mudan Ting" würdigen kann, mit dem die Wiener Festwochen den diesjährigen Reigen ihrer Aufführungen in der nagelneuen Halle E eröffneten. Aus ethnologischer und kulturhistorischer Sicht ist die insgesamt 20-stündige Aufführung der traditionellen Kunju-Oper auf jeden Fall ein Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte (zu sehen noch am 18., 19. und 20. Mai). Keine Angst: Die drei Teile der Aufführung dauern zwar jeweils etwa sieben Stunden, aber entsprechend der chinesischen Operntradition ist es dem Publikum gestattet, während der Aufführungen den Zuschauerraum nach Belieben zu betreten und zu verlassen.

"Mudan Ting" ("Der Pfingstrosenpavillon") des Shakespeare- und Monteverdi-Zeitgenossen Tang Xianzu (1550 bis 1616) ist ein gewaltiges Epos aus der Ming-Dynastie, die ein umfassendes Bild dieser Epoche zeichnet. Über 200 Arien umfasst die Partitur, manche davon dauern länger als 40 Minuten, 21 Darsteller verkörpern über 160 Rollen: Soldaten und Generäle, Bauern und Gouverneure, Mönche und Banditen, Nonnen und Prostituierte in zum Teil prachtvollen Seidenkostümen. Dabei steht die Liebesgeschichte zwischen einem jungen Gelehrten und einer wegen dieser Liebe gestorbenen und wieder ins Leben zurückkehrenden Jungfrau. Interessanterweise liegt den ersten Stücken der zeitgleich - um 1600 - entstandenen europäischen Oper ein ähnliches Motiv zugrunde: der Orpheus-Mythos.

Die Kunju-Oper beruht auf einem ausgeklügelten Symbolkodex und einer höchst stilisierten Form. Die Darsteller sprechen und singen zumeist im Falsett, die akrobatischen Kampfszenen sind publikumsfreundlich ritualisiert, ganz so wie die Rangkämpfe der Enten, die sich im ins Bühnenbild integrierten Teich tummeln. Diese mimischen Konventionen wurden mündlich weitergegeben, was die Musik anbelangt, ist "Mudan Ting" die einzige traditionelle chinesische Oper mit einer schriftlichen Überlieferung.

Der in New York lebende Regisseur Chen Shi Zheng hat das Werk mit enormem wissenschaftlichen Aufwand rekonstruiert, denn die Volksrepublik China legt nur geringen Wert auf die Erhaltung dieser traditionellen Form des Theaters. Nur vier Szenen dürfen dort gespielt werden. Allerdings kam es auch in früheren Zeiten schon zu Zensur: Ein Kaiser des 18. Jahrhunderts verbot zwei Szenen, die nur durch Zufall bis heute überliefert wurden: Die offenbar letzten Abschriften der gestrichenen Kapitel befanden sich in der Sammlung eines Musikliebhabers, der während der Kulturrevolution verhungerte. Seine Papiere dienten Kindern einer Propaganda-Theatergruppe der gefürchteten Roten Garden zum Abschminken. Ein Teil wurde vom Kulturbüro unter dem Vorwand von Platzmangel gerettet, darunter besagte Szenen aus "Mudan Ting", die 1983 wiederentdeckt wurden.

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