Thema: Volksfrömmigkeit?
Die Union des amerikanischen Reformjudentums hat gerade ihre 70. Generalversammlung beendet. In Toronto trafen sich 4000 Delegierte aus den 700 Synagogen Nordamerikas, ein guter Querschnitt der 1,2 Millionen Mitglieder der größten jüdischen Denomination. Die Gottesdienste waren gestaltet als Fest fröhlicher Gemeinsamkeit: flotte Rhythmen begleiteten das Singen und Beten, man freute sich, einander zu treffen und Erfahrungen auszutauschen, wie die Finanzkrise jede einzelne Gemeinde betroffen hat. Die Gemeinde als Forum für Suchende, Engagierte, Gleichgesinnte stand im Mittelpunkt. Politische Themen standen ganz oben auf dem Programm: Tony Blair sprach über seine Visionen zum Nahen Osten, König Abdullah von Jordanien schickte eine Botschaft, die Krankenversicherung für alle Amerikaner wurde heiß diskutiert.
Am Rand gedachte eine kleine Runde des 200. Geburtstags von David Einhorn. Dieser deutsche Rabbiner ging Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA, um zu einem der bedeutendsten Theologen des Reformjudentums zu werden: sein Eintreten gegen die Sklaverei und für die Gleichberechtigung der Frau waren kontrovers und richtungweisend zugleich. Bedeutsam waren seine theologischen Schriften, die geprägt waren von einem universellen Monotheismus und der Botschaft, dass jeder Jude zur „Heilung der Welt“ beitragen solle. Sein Schwiegersohn Kaufmann Kohler wurde zu einem entscheidenden Wegbereiter fürs theologische Denken des 20. Jahrhunderts. Nur wenige haben dieser Denker des Judentums gedacht und sich für ihr intellektuelles Erbe interessiert.
Wenn Religion aber lediglich zu einem Fest der Menschen wird, sollten wir uns an die Mahnung Jakob J. Petuchowskis erinnern: Religion ist der Dienst an Gott nach seinen Geboten, nicht bloß folkloristisches Happening im Meer des Individualismus.
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg/Potsdam
