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Kulturprofil der Jahrhundertwende

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ESSAYS VON HERMANN BAHR. Auswahl und Einführung von Heinz Kindermann. Zum 100. Geburtstag des Dichters. Herausgegeben vom Land Oberösterreich und von der Stadt Linz im H.-Bauer-Verlag, Wien. 360 Seiten. Preis 180 S.

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ESSAYS VON HERMANN BAHR. Auswahl und Einführung von Heinz Kindermann. Zum 100. Geburtstag des Dichters. Herausgegeben vom Land Oberösterreich und von der Stadt Linz im H.-Bauer-Verlag, Wien. 360 Seiten. Preis 180 S.

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In Deutschland, in Frankreich — und sogar in den USA hat man die an Anregungen scheinbar unerschöpflichen „goldenen zwanziger Jahre“ wiederentdeckt. In Österreich, speziell in Wien, fanden diese zwanziger Jahre gewissermaßen früher statt. Hier ist ei die Zeit der Jahrhundertwende, auf die man immer wieder — und mit gutem Grand — zurückkommt: auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, der Musik, der Literatur. Eine der Schlüsselfiguren dieser Zeit ist Hermann Bahr, der „große Unruhige“, der ..Mann von übermorgen“. Ebenso vielseitig wie seine Produktion als Romancier, Dramatiker, Essayist und Theaterkritiker waren Bahrs Interessen, die von der Literatur über die Malerei und das Kunstgewerbe bis zum Tanz reichten. , Man weiß, daß sich Bahr wegen dieser •einer Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit den Spott einer jüngeren Generation zugezogen hat, deren Wortführer sein hartnäckiger und unerbittlicher Gegner Karl Kraus gewesen ist. Aber diese engherzige Kritik wird Hermann Bahr, dessen menschliche Schwächen nicht geleugnet seien, keineswegs gerecht. Was wir heute an ihm vor allem schätzen, ist seine Tätigkeit und Funktion als Vermittler neuer Ideen, als Brückenschläger vor allem zu den westlichen Kulturen, als unermüdlicher Anreger und Mahner, der viel dazu beigetragen hat, daß jener Provinzialismus, den man heute so oft beklagt, sich in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende in Wien und in Österreich nicht ausbreiten konnte.

Wenn man heute die Essays von Hermann Bahr liest, so kommt man zu der Erkenntnis, daß er nicht nur einer der wenigen war, die wirklich wußten, was in der Welt los war, was gespielt wurde, sondern daß er auch eine untrügliche Witterung für das Neue hatte. Obwohl Hermann Bahr mit vielen Moden gegangen ist. hat er ebensovielen Richtungen und Künstlern die Treue gehalten. Schon in den neunziger Jahren hat er die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit der österreichischen Kultur — ihrer Literatur, ihrer bildenden Kunst und ihres Theaterwesens — betont und Gestalten, wie Grillparzer, Feuchtersieben und Stifter so gesehen, wie wir sie heute sehen.

Seine Essays und Betrachtungen zur zeitgenössischen Kunst hat er in den Sammlungen „Zur Kritik der Moderne“, 1890, „Die Uberwindung des Naturalismus“, 1892, und „Studien zur Kritik der Moderne“ zusammengefaßt. Mit dem großen, mehrteiligen Essay „Expressionismus“ von 1916 bilden sie ein Kompendium der Geistesgeschichte jener Jahrzehnte und sind nicht nur für den Literaturhistoriker, sondern auch für alle, die geistes- und kulturgeschichtliche Studien treiben, unentbehrlich. Aber die Bücher Hermann Bahrs sind seit vielen Jahren vergriffen, sie finden sich nur noch in Bibliotheken und Antiquariaten. Es war daher unbedingt notwendig, Hermann Bahr wenigstens in einer Auswahl wieder vorzustellen. Universitätsprofessor Dr. Heinz Kindermann hat sie aus dem umfangreichen essayistischen Werk getroffen — und sie mag ihm nicht leicht gefallen sein. Professor Kindermann gliedert die ausgewählten Studien Hermann Bahrs in folgende Abschnitte: Antikes Gleichnis (Dialog vom Marsyas); Österreichisches Vorspiel (Grillparzer, Feuchtersieben, Stifter); Stufen der Wandlung (Die Uberwindung des Naturalismus, Impressionismus, Expressionismus); Meister der Erfüllung (Dostojewski, Otto Brahm; Erinnerung an Max Burckhard, Mahler, Otto Wagner, Klimt, Girardi, Josef Kainz, die Duse); Dauer im Wechsel (Das Wesen des Burgtheaters, Schauspielkunst)- Der Herausgeber hat diese Auswahl mit einem das Phänomen Bahr trefflich charakterisierenden Vorwort versehen und mit zahlreichen Anmerkungen (auf insgesamt 16 Seiten) ausgestattet, die auch dem weniger vorgebildeten jüngeren Leser die Lektüre der an zeitgeschichtlichen Bezügen so reichen Bahr-Essays erleichtern.

Diese Lektüre ist anregend und im höchsten Grade instruktiv, zumindest für alle jene, für die die Welt nicht mit dem Jahr 194$ beginnt. Ist es nicht geradezu rührend, wenn Hermann Bahr dieser so eifrige Vermittler fremden Kulturgutes, über seine erste Begegnung mit Adalbert Stifter in Linz berichtet und von sich und seinem Altersgenossen sagt: „Seine ganze Generation wurde nicht zur Achtung auf Österreich erzogen; sie war gewöhnt, nach Idealen über die Grenze zu schielen, unsere eigenen sind uns unterschlagen worden... Und wenn der selbstvergessene Österreicher, also Stifter, seinen höchsten Ausdruck vergaß, wie hätte man ihn da draußen erkennen sollen?“ Stifter ist für Bahr deshalb so bedeutungsvoll, „weil er Sinn und Sendung der angestammten Art so rein ausgeprägt hat, wie Fischer von Erlach. Hildebrandt. Mozart und Schubert, Grillparzer und Stelzhamer“.

Im letzten Absatz dieses Stifter-Essays findet sich der Satz „In Paris bin ich erst für die Kunst erwacht. Für die Kunst an sich. Kunst als Weihe. Kunst als Sinn und Gehalt des Lebens ... Flaubert, die Gon-courts, Baudelaire erzogen mich dort zu künstlerischer Gesinnung. Ich war verwundert, wie gut vor ihr der Nachsommer des Linzer Hofrats bestand.“ Das ist der ganze Bahr, ein Mensch mit seinem Widerspruch, vorurteilslos und für jede Anregung aufgeschlossen. Dieser Bahr spricht auch aus dem Satz über die Moderne: „Die Vergangenheit war groß, oft lieblich. Wir wollen ihr feierliche Grabrede halten. Aber wenn der alte König bestattet ist, dann lebe der andere König!“ Nachdem Hermann Bahr den Naturalismus totgesagt und bestattet hatte, sieht er schon einen „neuen Idealismus“ kommen: „Da ist Puvis de Chavannes, da ist Degas, da ist Bizet, da ist Maurice Maeterlinck. Die Hoffnung braucht nicht zu zagen“, und alles ist bereit zum neuen „Kopfsprung in die Romantik“. Seinem Wesen nach war Bahr eigentlich der Typus jener Richtung, die er jetzt propagierte, des Impressionismus. Aber auch ihn, als Kunstrichtung wenigstens, überwindet er und weist auf die Allerneuesten: Kokoschka, Pechstein, Marc, Matisse, Picasso und Kandinsky.

So weit spannt sich der Bogen von Hermann Bahrs Leben und Wirken. Es ist erfreulich, daß die klassischen Essays dieses Ästheten und ewigen Modernen in einem so schönen und würdigen Gewand vorgelegt werden. Der stattliche Großoktavband ist vorbildlich sauber gedruckt und solidmodern ausgestattet. Man wünscht ihm viele österreichische Leser. Ein zweiter Band mit dem Titel „Theater der Jahrhundertwende“, der eine Auswahl von Bahrs Kritiken und Charakteristiken enthalten soll, wird vorbereitet.

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