Roman ohne Moral Titel

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Hin- und hergerissen beim Lesen der "Atterseekrankheit".

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Hin- und hergerissen beim Lesen der "Atterseekrankheit".

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Ich war in diesem Jahrhundert Deutschlands einziger, letzter Junge, dessen Leben den Gesetzen und der Romantik der Bildungs- und Entwicklungsromane folgt." Hier spricht ein Erzähler, der seine Kindheit und Jugend mit sezierendem Blick und selbstironischer Distanz betrachtet. "Die Atterseekrankheit" von Friedrich Kröhnke ist ein außergewöhnlicher Roman. Er konfrontiert Momente, die tatsächlich lebhaft an klassische Bildungsromane erinnern, mit der Geschichte einer 68er-Jugend, die wenig mit Wilhelm Meister oder Anton Reiser zu tun hat. Diese Gegensätze spiegeln sich auch in der Sprache. Saloppe Ausdrucksweise und Poesie sind so gekonnt vereint, daß ein harmonisches und oft auch sehr witziges Ganzes entsteht.

Mit der "Atterseekrankheit", die weniger mit Pathologie als mit nervlicher Anspannung und Einbildungskraft zu tun hat, kehrt die im Roman teils explizit, teils zwischen den Zeilen, aber jedenfalls allgegenwärtige Mutter von einem Salzkammergutaufenthalt zurück. Diese eigenartige Empfindsamkeit haben ihre Zwillingssöhne mit ihr gemeinsam. Sie sind als Kinder unzertrennlich, machen jedoch sehr unterschiedliche Karrieren. Der eine wird Universitätsprofessor, der andere, Fritz, unser Erzähler, endet nach einer glücklosen Zeit des Engagements in kommunistischen Organisationen voll Selbstaufopferung als Faktotum der Geisteswissenschaften mit Gelegenheitsjobs, die ihm neben den Geldgeschenken entfernter Naziverwandter die nötigsten Mittel verschaffen und genug Zeit lassen, seiner Leidenschaft nachzugehen, der Liebe zu Knaben. Er hat Glück, sie lieben ihn auch. Unersättlich reist er um die halbe Welt, immer auf der Jagd nach dem einen, nach günstigen Gelegenheiten zu Affären. Und die werden uns dann berichtet. Erstaunlicher: Es ist jedesmal anders und wird nie langweilig.

Kröhnkes Protagonist weiß, was er will, und tut das auch, ungeachtet aller moralischen und gesellschaftlichen Schranken. Er erscheint dem Leser als schrecklicher Egoist, dann wieder kann man nicht umhin, ihn mit ehrlicher Sympathie zu betrachten, einen sensiblen, kultivierten Mann, der Angst vor der Einsamkeit hat. Kröhnke schrieb dabei auch die Geschichte einer Generation, die in der Aufbruchsstimmung ihrer frühesten Jugend die Welt verbessern wollte und die einstigen Ideale bröckeln sieht, von innen zerfressen, von außen zerschlagen, und nicht jeder von ihnen hat sich der Gesellschaft angepaßt.

Positiv an diesem Roman berührt auch, daß nicht gewertet wird. In keiner Richtung. Weder verdammt noch verteidigt. Jeder kann nur für sein eigenes Leben wissen, was richtig ist, und oft nicht einmal das. Die Ambivalenz bleibt bestehen, der Leser bleibt schwankend, vorschnelle Urteile werden ihm schwer gemacht.

Die Atterseekrankheit Roman von Friedrich Kröhnke Ammann Verlag, Zürich 1999 439 Seiten, geb., öS 307,-/ e 22,31

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