Stilisiertes Vertuschungsmanöver einer gefährlichen Ratlosigkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Natürlich wird nie wirklich über den Buben gesprochen, in Lynne Ramsays Film "We need to talk about Kevin“. Mit ihrer ersten Arbeit nach einer neunjährigen Schaffenspause begibt sich die schottische Regisseurin in die US-Vorstadt-Welt, in der hinter weißen Gartenzäunen dunkle Abgründe lauern und hinter vorgehaltener Hand Lynchjustiz betrieben wird: Kevin ist ein sonderbares Kind, schon als Ungeborener, das fühlt die Mutter (Tilda Swinton), obwohl sie hier ansonsten die Rolle des emotionalen Eisschranks innehat, während der Vater (John C. Reilly) den dümmlich Naiven spielen muss. Kaum ist Kevin auf der Welt, verstärkt sich ihr Unbehagen: Das Kind lehnt sie ab, ist aggressiv, dabei aber geschickt manipulierend: Es zeigt nur ihr sein böses Gesicht, allen anderen erscheint Kevin als intelligenter, feinfühliger Bub.

Ramsay inszeniert in gewaltigen Farb-, Licht- und Soundcollagen und extrem symbolüberladen. Die Farbe des Films ist Rot, von Tomatenpulpe bis zu Blut, das am Ende definitiv fließt, ist Kevin doch eines dieser Kinder, von denen man "nie gedacht hätte, dass er zu so etwas fähig wäre.“ Die Mutter weiß hingegen, wozu der Satanssbraten imstande ist, und sie ringt mit der Selbst-Schuld-Frage: Hat sie ein Monster geschaffen? Die androgyne Swinton verkörpert ihren Part "perfekt“ - aber muss emotionale Kühle mit Androgynität einhergehen? Die Mutterfigur gerät durch die küchenpsychologischen Ambivalenzen, die Ramsay hier argumentiert, sehr ins Problematische. Die absichtliche Provokation des Films liegt in der Fragestellung wie weit ein "böser“ Mensch als solcher klassifiziert werden kann und wer ihn "böse“ macht. Die Gene? Sein Umfeld? Beides? Ramsay will zwar (klugerweise) keine Antworten geben; aber ihre künstlich zerrissene, andeutungsvoll dissoziative Erzählweise lässt die Handlungsachse um den Kern des zentralen Massakers schnell durchscheinen und entlarvt diesen Film am Ende als stilisiertes Vertuschungsmanöver einer gefährlichen Ratlosigkeit, aus der eine selbstgerechte Suggestion erwächst. (Alexandra Zawia)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung