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Dass die Wahrheit eine Tochter der Zeit sei, hat der vorige Präsident des Nationalrats gerne verkündet. Er meinte damit: sie verändere sich mit der Zeit, eine wunderbare Generalentschuldigung für das politische Handwerk. In Wahrheit meint "veritas filia temporis" aber, dass mit der Zeit die Wahrheit ans Licht kommt. Mögen die vertuschten Ereignisse auch weit weg stattgefunden haben, sagen wir, in der Karibik.

Dass der Gedanke der unweigerlichen Aufdeckung noch so raffinierter Machenschaften ausgerechnet Silvio Berlusconi gefällt, der seine Korruptionsprozesse per Gesetz abwürgen lässt, mag überraschen. Aber der Ministerpräsident hat wohl tatsächlich ein eigenwilliges Rechtsbewusstsein: Seit einigen Wochen beliebt er seine Pressekonferenzen im Palazzo Chigi vor Tiepolos Allegorie "Die Wahrheit, enthüllt von der Zeit" abzuhalten. Das Gemälde (eine Kopie) zeigt eine auf ein Wolkenbett hingegossene Frau mit nackten Büsten. Hinter ihr, väterlich interesselos, ein Greis - in dem der schöne Silvio wohl kaum sich selbst gespiegelt sehen dürfte. Nein, der Freund barocker Hofhaltung wollte den Maler zum Kronzeugen für die eigene Unschuld aufrufen, die irgendwann an den Tag kommen werde.

Nun schien Berlusconi aber die Wahrheit des nackten Busens den Menschen nicht zumutbar: Er ließ die barocke Freizügigkeit retuschieren, die fürwitzige Brustwarze mit einem Schleier übermalen. "Die Wahrheit, enthüllt von der Zeit, verhüllt von Berlusconi." Wer in eine Allegorie eingreift, verbrennt sich die Finger. Erstaunlich, dass einem Medienprofi so etwas passiert. Welch heikles Geschäft die politische Symbolik ist, musste auch Kunstministerin Schmied mit der antibarocken Noeverisierung ihres Arbeitszimmers erfahren. Wohlweislich hat man vom Bildnis Franz Josephs bis jetzt Finger und Pinsel gelassen.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin in Wien.

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