Wenn sich Bürgerprotest artikuliert

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"Empört euch“: Der Titel der Kampfschrift von Stéphane Hessel ist Programm der "Wutbürger“. Da kommt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gattung Manifest gerade recht.

Der italienische Futurist und Künstler Filippo Marinetti (kl. Bild) bezeichnete die präzise Anklage gepaart mit einer genau dosierten Beschimpfung als wesentliche Bestandteile eines erfolgreichen Manifests. Und der begnadete Provokateur wusste, wovon er sprach, schließlich hat er mit dem ersten futuristischen Manifest aus dem Jahre 1909 eines der in der Kunstwelt bekanntesten Manifeste veröffentlicht, welches er damals in der Tageszeitung Le Figaro veröffentlichte. Mit Sätzen wie "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“ verstörte er die Öffentlichkeit und wurde zum Begründer der futuristischen Bewegung.

Vom Herrschafts- zum Oppositionsmedium

Eine gewisse Portion Größenwahn gehört zu einem erfolgreichen Manifest, will es in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie nicht überhört werden. Denn Manifeste gibt es viele, nur wenige - wie zum Beispiel die 95 Thesen Luthers oder das Kommunistische Manifest - werden aber auch zum Auslöser für gesellschaftliche und politische Revolutionen. Die meisten Manifeste verhallen ungehört und ohne Resonanz im Orkus der Geschichte. Dennoch, es gibt und gab Manifeste, die den Weltenlauf entscheidend veränderten. Trotz dieser geschichtlich erwiesenen Wirkmächtigkeit politischer und gesellschaftskritischer Manifeste fehlte bislang eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Diese Forschungslücke haben die Herausgeber Johanna Klatt und Robert Lorenz mit der lesenswerten Publikation nun endlich geschlossen. In ihrem Sammelband stellen sie ein breites Spektrum unterschiedlicher Typen von Manifesten vor und untersuchen diese vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Historisch verstand man den Begriff Manifest als Bezeichnung für eine gewichtige und feierlich-öffentliche Erklärung von weltlichen Herrschern wie Fürsten oder Staatsregierungen, die beispielsweise zu bevorstehenden Kriegsakten Stellung bezogen. Im späten 16. Jahrhundert verlautbarten Könige in ihren Manifesten ihren herrschaftlichen Willen, also Verordnungen, Erklärungen, Proklamationen und sonstige Erlässe. Das heißt, Manifeste dienten den politischen Autoritäten als Medium, um die Bürger über bereits beschlossene Entscheidungen und Gesetze zu informieren. Mit der Erfindung des Buchdruckes änderten sich Inhalte und Funktionen des Manifestes. Es wandelt sich von einem Verkündigungs- zu einem Propagandainstrument absolutistischer Herrschaft. Im Zuge der französischen Revolution wandelte sich die Textgattung nun zu einem Medium der Opposition. Manifeste wurden jetzt von revolutionären politischen Gruppen, die außerhalb des politischen Systems standen, eingesetzt und als Sprachrohr für ihre bislang marginalisierten Interessen instrumentalisiert. Während dieser Zeit entwickelte das Manifest seine auch noch heutige gültigen Grundcharakteristika: Manifeste sind Medien der Dissidenz und der Subversion.

Was sind nun aber die markantesten Charakteristika von Manifesten? Als erstes Charakteristikum muss das Manifest das Ziel haben, die Öffentlichkeit zu erreichen. Zweitens muss das Manifest jedem Bürger zugänglich sein. Drittens sind Manifeste weniger an ihren äußeren Merkmalen als an ihrer Funktion zu identifizieren; dabei sind Kritik (am Ist-Zustand), die Formulierung von Änderungswünschen sowie das Aufzeigen von politischen Alternativlösungen drei wesentliche Bestandteile der Texte. Während die Kritik an einem bestehenden Missstand dingfest gemacht wird (so kritisierte Luther etwa den Ablasshandel), werden bei Formulierung der Alternativen zumeist auch Handlungsaufforderungen formuliert, auf deren Grundlage die Politik und die Lebensumstände der Menschen besser werden könnten. Neben diesem utopischen Heilsversprechen zeichnen sich politische Manifeste daher meistens auch durch pointierte Forderungen aus; ihr Sprachduktus ist häufig feierlich, pathetisch, instruktiv, von Appellen, Aufforderung oder Verzichtsbekundungen durchdrungen. Typisch dabei ist, dass es den eigenen Standpunkt durch positive und zu Superlativen neigende Wortwahl zum Dogma und zum Glück der Menschheit erklärt, während der gegnerische scharf und auch moralisch diskreditiert wird. Literaturwissenschaftlich betrachtet sind Manifeste also "performative Sprechakte, mit deren Äußerung eine bestimmte Handlung vollzogen wird, etwa ein Urteil gefällt, eine Erklärung abgegeben oder eine Forderung gestellt“. Und hier liegt auch das emanzipatorische Potenzial dieser Textgattung: Als Verdichtung, Übertreibung und geraffte Übersichtsdarstellung können Manifeste dazu dienen, komplexe gesellschaftliche Phänomene in einfacher Form einer breiten Masse zugänglich zu machen.

Instrumentalisierung durch NGOs

Besonders instrumentalisiert wurden Manifeste in jüngster Vergangenheit vor allem von NGOs. Warnschriften von Bürgerbewegungen mit ihrem eschatologischen Unterton wirken der eigentlich emanzipatorischen Textgattung Manifest entgegen: Ging es früher um die Überwindung von Ausbeutung und die Benennung von Ungerechtigkeiten, hat der Leser bei Pamphleten von radikalen Tierschutzrechtsbewegungen wie PETA - die Massentierhaltung mit dem Holocaust gleichsetzten - meist das Gefühl, dass es bei dieser Schockästhetik nur darum geht, möglichst viele Spenden zu akquirieren. Das ist schade, denn auch heute gibt es genügend politische Sachverhalte für Wutbürger, die klare Worte benötigen.

Manifeste

Geschichte und Gegenwart des politischen Appells

Johanna Klatt, Robert Lorenz (Hg.)

transcript Verlag, Bielefeld 2011, e 32,80

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