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Gerade jetzt Rehabilitierung

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Jahre hindurch wurden die christlichen Traditionen in der Öffentlichkeit der Tschechoslowakei ignoriert und verschwiegen, und viele empfanden die Verdrängung der religiösen Erziehung aus der Schule und des religiösen Erbes der Kultur als charakteristische Merkmale der „Konterrevolution“, Heute wecken christliche Werte bei denkenden und suchenden Menschen erhöhte Aufmerksamkeit. Sicher ist bei der Beurteilung solcher Phänomene Vorsicht geboten; trotzdem wird man von einem Prestigegewinn der Kirchen und von einer „Rehabilitierung“ des Christentums in der CSSR sprechen dürfen

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Jahre hindurch wurden die christlichen Traditionen in der Öffentlichkeit der Tschechoslowakei ignoriert und verschwiegen, und viele empfanden die Verdrängung der religiösen Erziehung aus der Schule und des religiösen Erbes der Kultur als charakteristische Merkmale der „Konterrevolution“, Heute wecken christliche Werte bei denkenden und suchenden Menschen erhöhte Aufmerksamkeit. Sicher ist bei der Beurteilung solcher Phänomene Vorsicht geboten; trotzdem wird man von einem Prestigegewinn der Kirchen und von einer „Rehabilitierung“ des Christentums in der CSSR sprechen dürfen

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Die Kirchen versuchen die Menschen auf dem Wege der Hoffnung zu bestärken und sie tun das nicht aus politischen, taktischen Erwägungen, sondern aus der Vollmacht ihres Auftrages; es sind immer mehr, die in der Ratlosigkeit, die sie setit dem August 1968 erfaßt hat, bereit werden, auf die Kirchen zu hören, vielleicht auch deshalb, weil die Kirchen von vornherein ein eindeutiges Bekenntnis zum Demokratisierungsprozeß unter Führung Dubeeks gesprochen haben. Die Menschen sind durch ihre Erfahrungen mit den Besatzungstruppen sicher nicht „religiös“ geworden; sie suchen aber Hilfe überall, wo sie sie finden können, auch be? den Kirchen. Die heute verantwortlichen Männer in der evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder — und von ihr soll jetzt im besonderen berichtet werden — haben begriffen, welche Möglichkeiten ihnen die Verbesserung der Beziehungen zwischen Staat und Kirchen bietet. Im größten Prager Saal, der Kongreßhalle, in der sonst nur politische Kundgebungen abgehalten werden, gedachten sie im Dezember des Vorjahres des 50jährigen Bestehens der Vereinigung von tschechischen Lutheranern und Reformierten zu einer Kirche. Mehr als 6000 Gemeindemitglieder nahmen an der Gedenkfeier teil, bei der Professor Hromadka die Festpredigt hielt. Im Namen des Sekretariates für Kirchenangelegenheiten des Kultusministeriums der CSSR sprach dessen Leiterin, Frau Doktor Kadlecova, über die neuen partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Sie setzte sich für eine gerechte demokratische Lösung der Probleme ein, die Staat und Kirche gemeinsam betreffen, und äußerte den Wunsch nach einem verstärkten Dialog zwischen Christen und Marxisten, um eine Humanisierung des Sozialismus (schneller) zu erreichen. In einem Interview, das vom Informationsdienst des protestantischen Nationalrates der Kirchen in den USA veröffentlicht wurde, sprach die Staatssekretärin unter anderem davon, daß die „hohe staatsbürgerliche Verantwortung, der Mut und die Disziplin der Kirchen während der Krise“ die Repräsentanten des Staates davon überzeugt hätten, daß eine kirchenfeindliche Politik „zur Zeit“ (!) unverantwortlich sei. Zugleich verwies Frau Doktor Kadlecova auf den zunehmenden Druck der sowjetischen und anderer kommunistischer Parteien auf die CSSR-Staatsführung, die atheistisch Erziehung und Propaganda unter allen Umständen zu verstärken. Die staatliche Funktionärin und die evangelische Kirchenleitung stimmten darin überein, daß jede Beeinflussung von außen zur Zeit falsch wäre: „Wir Christen in der CSSR müssen in der Gestaltung unserer religiösen Angelegenheiten unsere volle Freiheit behalten.“ Man will aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, im Ringen um die Wahrheit im Verständnis von Hus und Comenius neue Perspektiven für eine bessere Zukunft finden, dabei sich aber keinesfalls von den brennenden Problemen der Gegenwart distanzieren. Gerade das schließt ein uneingeschränktes Ja zur vollen Souveränität des eigenen Staates ein und von daher eine immer lauter werdende Forderung nach dem endgültigen Abzug der fremden militärischen Einheiten. Das Verlangen nach unzensurierter Information ist ebenso selbstverständlich, wie der Wunsch nach Versammlungsfreiheit, nach Entfaltungsmöglichkeiten für Kultur und Wissenschaft, nach föderativen Strukturen der Jiigendarbeit und nicht zuletzt nach Gleichberechtigung aller Christen in der staatlichen Gemeinschaft. Es überrascht, daß man sich offenbar im christlichen Bereich nicht mehr damit begnügen will, sich für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und einen humaneren Sozialismus zu engagieren, daß man die Kraft des Glaubens und die Macht der Hoffnung neu entdeckt hat. In der Botschaft der Jubiläumsversammlung der evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder im Dezember des Vorjahres heißt es: ..Wir wollen überall dort aktiv sein,wo die Menschen um ein gemeinsames Leben in Wahrheit, Ehrlichkeit und Vertrauen ringen. Wir wissen, daß die kleinen Nationen vor allem durch ihre innere Kraft stehen und siegen; wir sehen auch für uns einen Aufruf Gottes darin, daß wir nicht auf Gewalt, List und äußere Macht hoffen, sondern auf die wehrlose und doch siegreiche Wahrheit des Kreuzes Christi und Seiner Auferstehung ...!“

Diese Neubesinnung auf die Kraft des Glaubens an Jesus, den Sieger, ermutigt zu sehr konkreten Schritten. Aus dem Referat eines Prager Seniors über die Erziehungsarbeit der evangelischen Kirche verdient sicher der Bericht über das fast 400prozen-tige Ansteigen der Anmeldungen zum Religionsunterricht besondere Beachtung. Die Zeit seheint der Vergangenheit anzugehören, in der verschreckte Eltern, aus berechtigter Angst vor beruflichen Nachteilen unter staatlichem Terror, ihre Kinder zum Besuch des Religionsunterrichtes gar nicht anmeldeten; gegenüber 3033 Anmeldungen im Schuljahr 1967/68 weist die Statistik für das laufende Schuljahr 10.300 Kinder Im evangelischen Unterricht in Prag auf. Mitgeholfen haben sicher auch die neuesten Anordnungen des Kultusamtes, die die früher üblichen Schikanen bei der Anmeldung abschafften.

„Liebet einander und gönnt jedem die Wahrheit“ — so steht es bis heute in Stein gemeißelt im Herzen Prags. Ob diese Wahrheit, die die Tschechen nicht nur für sich selbst wollen, sondern auch den anderen gönnen, bei ihnen selbst zum Tragen kommt, das können wir nur hoffen, und wenn wir gläubige Christen sind, darum beten.

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