Zwei Leben

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THOMAS STANGL ERZÄHLT ZWEI PUBERTÄTEN: EINE AUS DEM JAHR 1937, EINE VOM ENDE DER 1970ER JAHRE.

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THOMAS STANGL ERZÄHLT ZWEI PUBERTÄTEN: EINE AUS DEM JAHR 1937, EINE VOM ENDE DER 1970ER JAHRE.

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Thomas Stangl gilt seit seinem Romandebüt "Der einzige Ort" 2004 als ein Autor, der glatte Oberflächen, einlässige Plots und kurrente erzählerische Standards, also die sichersten Zutaten für Breitenwirkung und Renommee, bewusst vermeidet. Diesem Konzept bleibt er auch in seinem dritten Roman "Was kommt" verpflichtet, der mit der Figur Emilia Degens an die Mutter-Tochter-Geschichte des vorangegangenen Buches "Ihre Musik" (2006) anknüpft. Nunmehr ist Emilia die Tochter, allerdings als Halbwaise bei der betagten Großmutter lebend. Diese familiäre Konstellation ist auch das Verbindungsglied zum zweiten Erzählstrang rund um den jungen Andreas, dessen Eltern verunglückt sind.

Auf der Erzähloberfläche ist das Gemeinsame der beiden Figurenebenen, die Pubertät, mit dem zeitlichen Abstand von vierzig Jahren in die österreichische Geschichte eingeschrieben: Emilias Gegenwart ist der Sommer 1937, die Handlung um Andreas ist laut Klappentext und vielen Handlungsdetails Ende der 1970er Jahre angesiedelt, auch wenn sich einige Ungleichzeitigkeiten eingeschlichen haben. Bis zum Aufschütten von Sandstränden am Donaukanal war es noch ein weiter Weg, und auch die Fantasie eines Amoklaufs in der Schule mag eher heutig sein; 1937 hingegen war es für eine 17-jährige Gymnasiastin aus ärmlichen Verhältnissen wohl nicht so selbstverständlich, auf eine Melange und eine Zigarette ins Kaffeehaus zu gehen.

Vieles an den beiden Figuren ist vergleichbar: Beide sind Einzelgänger, beide sind schultraumatisiert, beide kämpfen mit den normalen pubertären Problemen der körperlichen Veränderungen, der Selbstfindung und der Positionierung im sozialen Umfeld. Während die Gleichaltrigen die städtischen Bäder aufsuchen, ziehen es Emilia wie Andreas vor, allein durch die Straßen der Stadt zu streifen oder sich der Realität durch Flucht in die fiktive Welt der Bücher zu entziehen.

Politisch aktiv

Die radikalste Differenz zwischen den beiden Jugendlichen liegt auf der Zeitachse, also im Politischen: Emilia leidet am Klima der intellektuellen Enge des austrofaschistischen Regimes, wo die Schulstunden mit lauten "Österreich"-Rufen beginnen und dissidente Lehrer wie Schüler in Angst leben. Emilia findet durch ihre erste Liebe zu Georg Anschluss an eine Gruppe politisch aktiver Jugendlicher, sie lesen verbotene Zeitungen und besuchen die kleinen Kabaretts, wo Jury Soyfers Stücke aufgeführt werden. So lebendig wird Emilia vielleicht nie wieder sein.

Andreas hingegen gelingt ein Ausbruch aus seiner Isolierung nicht, die zaghafte Annäherung an die politische Bewegung seiner Zeit - es geht um eine Anti-AKW-Demonstration -scheitert an seiner Tollpatschigkeit.

Irritation entsteht mitunter aus der unmittelbaren Verschneidung der beiden Lebenswelten, die abschnittsweise erzählt werden. Verstörend ist weniger, dass die Grenze zwischen den historischen Epochen für einige Staffagefiguren -etwa für zufällige Passanten auf der Brücke über den Donaukanal - durchlässig zu werden scheint. Es sind vor allem alte Frauen, deren mühseligen Gang Emilia wie Andreas vom Kai aus beobachten, und das erklärt sich aus ihrer geschärften Wahrnehmung für das Alter durch das Zusammenleben mit ihren Großmüttern. Ratloser lassen politische Überblendungen zurück. In Emilias Lebenswelt sind Parteiabzeichen bedrohliche Realität, die die Jugendlichen über die Notwendigkeit der Emigration nachdenken lassen. Schwappen diese Motive in die späten 1970er Jahre herüber -etwa als zufällige Passanten "mit Abzeichen auf der Brust" oder bewaffnete Polizisten vor dem OPEC-Gebäude -, bleibt man lesend etwas ratlos zurück.

Doch Stangl setzt auch in seinem neuen Buch auf sinnliche Beschreibungskunst und sprachlich kunstvolle Zerdehnung der Zeit im Erleben der Figuren; der Erzähler begleitet sie auf ihren langen, ziellosen Spaziergängen durch das hitzegestaute Wien, mit Vorliebe im zweiten Bezirk, wo Emilia wohnt, oder im dritten, wo Alexander zu Hause ist; er beschreibt die komplexen Innenbilder und Tagträume, mit denen die Heranwachsenden sozialen Situationen begegnen, die sie überfordern, und vor allem sind es immer wieder Körperbilder, an denen sich der schwierige Bezug zur Realität, zum eigenen Leben und den diffusen Sehnsüchten festmacht.

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