Kein Grund für bitteren Geschmack

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Ich habe einen bitteren Geschmack im Hirn. Ist's vielleicht die sogenannte Sexaffäre im St. Pöltener Priesterseminar, über die ich alles weiß aus zweitem Massenmedium? Schmecke ich also meine Vorurteile, aufgrund derer ich den involvierten St. Pöltener Würdenträgern und Seminaristen jedes Bösebubenstück ohne nachzudenken in- und außerhalb der heiligen Zeiten zutraue? Aber: warum will ich gleichzeitig trotzdem daran zweifeln, obwohl die Beweise so bedrückend erscheinen?

Oder ist's das Gefühl, mit dem St. Pöltener Bad ausgeschüttet zu werden, das heißt, persönlich wie stellvertretend in meiner katholischen Ehre schwer gekränkt zu werden durch Aussagen in Interviews, Leserbriefen und Kommentaren? Etwa durch (Zitat): "Die Vorgänge in Kurt Krenns Diözese sind nicht die Ausnahme, sondern eher die unappetitliche Variation der Regel." - Oder (ein weiteres Zitat): "Kaum einer meiner homosexuellen Freunde hatte noch nichts mit einem Priester..." - Und wie immer: "Schafft doch endlich den Zölibat ab!" Als ob ein zölibatäres Leben nicht genau so glückhaft gelingen könnte wie eine erfüllende Partnerschaft.

Aber dann wird mir plötzlich klar: Ich verwechsle da was, und ebenso alle, welche die Kirche unter St. Pöltener Vorwand verlassen und ihr Heil in o. B. riskieren. Es geht ja gar nicht um sie und ihre Gefühle. Leserbriefe, Interviews und Kommentare sagen etwas über deren Verfasser aus und nicht über mich und meine Kirche. Und St. Pölten ist schon gar nicht der Maßstab des Reiches Gottes, genausowenig wie eine steigende Zahl von Konkursen eine Emigration aus Österreich notwendig macht. Ich habe also keinen Grund für einen bitteren Geschmack. Ich kann ja auch was tun für meine Kirche.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Direktor der Joanneum Research Forschungsgesellschaft in Graz.

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