Kreisky und die Analphabeten

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Nach einer Untersuchung im Auftrag der "Deutschen Gesellschaft Lesen e.V." Mitte der neunziger Jahre können Menschen, die in die Kategorie "funktionale Analphabeten" gehören - also zwar die Buchstaben kennen, aber nicht lesen können -, nicht zwischen Unterhaltungs- und Nachrichtensendungen im Fernsehen unterscheiden. Konkret bedeutet dies: Von funktionalen Analphabeten wird ein Bericht über den Terroranschlag in Madrid am 11. März als Actionfilm aufgefasst, während Blondi Gottschalk von diesem Segment die meisten Stimmen bei der Bundespräsidentenwahl erhält - sogar wenn er nicht kandidiert. Der erste Politiker, der dies schon lange vor der Untersuchung im Auftrag der "Deutschen Gesellschaft Lesen e.V." erfolgreich berücksichtigte, war Bruno Kreisky, weil er stets offen ließ, ob eine seiner Aussagen eine politische oder eine unterhaltsame sei.

Inzwischen ist dieses von Fachleuten als "Kreisky-Universalie" bezeichnete anthropologische Polit-Phänomen in (fast) allen österreichischen Medien anerkannt, so dass nun auch wieder mehr gelesen wird und die Zahl der funktionalen Analphabeten zugunsten der "semantischen Analphabeten" zurückgeht - das sind jene, die nicht verstehen, was sie lesen, und es trotzdem glauben. Das ist wohl auch der Grund, dass inzwischen Unterhaltungskünstler stärkeren politischen Einfluss ausüben als Persönlichkeiten, denen es ernst ist mit der Heiterkeit und dem Leben - sowohl in der Politik als auch in den Medien. Aktuelle Beispiele entnehmen Sie bitte den Tageszeitungen und dem ORF (siehe etwa unter Sicherheit, Rot-Blau, ESTAG).

PS: Dass wieder mehr gelesen wird, ist auch der endgültige Beweis für die Ambivalenz aller bildungspolitischen Maßnahmen.

Der Autor ist Wissenschaftlicher Direktor der Joanneum Research Forschungsgesellschaft in Graz.

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