Stocknüchterner Irrationalismus

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Das "Handbuch der Rauschdrogen" könnte bei der Willensbildung für eine vernünftigere Drogenpolitik hilfreich sein.

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Das "Handbuch der Rauschdrogen" könnte bei der Willensbildung für eine vernünftigere Drogenpolitik hilfreich sein.

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Irrationale Politik wird vorzugsweise im stocknüchternen Zustand gemacht. Ein aktuelles Beispiel dafür: Die amerikanische Drogenpolitik, der sich fast die ganze Welt angeschlossen hat. Sie ist irrational, weil nicht-begründungsorientiert, nicht-argumentativ, Argumenten kaum zugänglich.

Die Zahl der Untersuchungen, die den Cannabis-Produkten Marihuana und Haschisch eine geringere Gefährlichkeit als Nikotin und Alkohol bescheinigen, sowie daß sie nicht süchtig machen, ist mittlerweile stattlich. Solche Untersuchungen werden ignoriert, mit Scheinargumenten niedergebügelt oder zensuriert. So wurde der Weltgesundheitsorganisation WHO vom britischen Wissenschaftsmagazin "New Scientist" vorgeworfen, eine solche Studie zurückgehalten zu haben.

Der Cannabis-Konflikt spaltet Gesellschaften. Wer sich wissend machen möchte, ist mit der seit kurzem vorliegenden Überarbeitung eines seit 1971 des öfteren aktualisierten Standardwerks gut beraten: "Handbuch der Rauschdrogen" von Wolfgang Schmidbauer und Jürgen vom Scheidt. Beide Autoren haben Psychologie und Psychopathologie studiert, Doktor vom Scheidt (Jahrgang 1940) außerdem Philosophie und Soziologie, Doktor Schmidbauer Pädagogik und Kulturanthropologie. Ihr Werk ist sachlich, un-ideologisch und berücksichtigt divergierende Standpunkte.

Psychologisch und politisch blockiert Ob den Autoren dies auch jene zugestehen, deren Standpunkt unverrückbar ist, darf freilich bezweifelt werden. Unverrückbarkeit von Standpunkten aber trägt allemal zumindest eine Dosis Irrationalität in sich. Wer dazu neigt, die Cannabis-Produkte den Suchtmitteln zuzuordnen, und dieses Buch offen liest, wird seinen Standpunkt überdenken. Ungemütlicher sind die möglichen Konsequenzen, die sich für die Suchtgiftpolitik insgesamt ergeben. Und denen man sich stellen kann - oder auch nicht.

Die Cannabisfrage ist politisch und psychologisch blockiert. Folgt man den von vielen Seiten gestützten Argumenten der Handbuch-Autoren, ist sie auf der sachlich-wissenschaftlichen Ebene erstaunlich leicht zu lösen, eigentlich kein wirkliches Problem. Demnach sind Marihuana (das tabakartige Kraut der Hanfpflanze) und Haschisch (ihr Harz) zwar Rauschmittel, machen aber nicht süchtig und erzeugen, wo überhaupt, in wesentlich geringerem Maß Abhängigkeit als Alkohol oder Nikotin. Die Cannabisprodukte mit der wirksamen Substanz THC (Tetrahydrocannabiol) sind neben dem Alkohol die verbreitetste Rauschdroge der Welt und wie der Alkohol Teil von Kulturen.

Schmidbauer und vom Scheidt schreiben undifferenzierten Cannabis-Vorkämpfern keineswegs nach dem Mund, sondern dringen auch hier auf die Unterscheidung von gelegentlichem Konsum und chronischem Mißbrauch: "Letzterer, dafür sprechen alle Forschungsresultate eine klare Sprache, ist sowohl für den Körper wie für das Seelenleben des Konsumenten, und natürlich in der Folge auch für sein soziales Verhalten, enorm schädlich. Anders als der chronische Mißbrauch vermag das gelegentliche Marihuana-Rauchen oder Haschen - wenn auch nicht zuverlässig - ausgesprochen angenehme Zustände herbeizuführen, in deren Gefolge, neben sehr subjektiven Projektionen, vertiefte Einsichten in das eigene Wesen wie auch in die Beschaffenheit der Umwelt zugänglich werden. Wer dieses Faktum unterschlägt, macht sich, gerade bei jungen Leuten, mit Recht unglaubwürdig."

Alles spricht dafür, Cannabis gleich neben dem Wein jenen von der Gesellschaft integrierten oder zumindest tolerierten Kulturdrogen gleichzustellen, die man der Verantwortung des einzelnen überläßt. Die Verteufelungsposition verzichtet auch immer öfter darauf, mit der Gefährlichkeit der Hanfprodukte zu argumentieren. Sie zieht sich auf die Behauptung zurück, sie seien "Einstiegsdrogen", die den Konsum gefährlicherer Stoffe nach sich ziehen.

Daran mag etwas sein, wenn der Dealer das Hasch in der linken Tasche und Koks und Heroin in der rechten Tasche hat - und an letzteren mehr verdient. Könnte man im Zigarettenladen an der Ecke auch gleich Kokain kaufen, würden vermutlich Zigaretten, Zigarre und Pfeife nicht nur als Krebserreger enttarnt, sondern auch als Einstiegsdroge für Kokain verteufelt. Fände man im Weinregal auch Heroin, würde wahrscheinlich der Wein nicht mehr nur deshalb bekämpft, weil er betrunken macht, wenn man zuviel konsumiert, sondern bald auch als Einstiegsdroge für Heroin. Die Logik, mit der die weichen Drogen "Hasch" und "Gras" (Marihuana) nach wie vor in einem Aufwaschen mit Heroin, Kokain sowie neuen und neuesten Designerdrogen kriminalisiert wird, ist auf Dauer kaum zu halten.

Das "Handbuch der Rauschdrogen" enthält aber von "Alkohol" bis "Zukunftsdrogen" in 51 Stichwörtern Informationen über mehr als 100 Substanzen. Darunter so exotische wie Banasteriopsis caapi, ein halluzinogenes Gebräu aus Lianen, mit dessen Hilfe Amazonas-Indianer Kontakt zur Geisterwelt aufnehmen und militärische Operationen des Gegners vorhersehen, heute schon kaum mehr besonders exotische wie die diversen magic mush-rooms (halluzinogene Pilze) und nach mehrhundertjährigem Siegeszug gar nicht mehr exotische wie das Nachtschattengewächs Tabak.

Was die Gefährlichkeit betrifft, kommt der Tabak im Handbuch besonders schlecht weg. Sehr zu Recht, obwohl auch gelegentlicher Tabakgenuß als harmlos eingestuft wird. Aber was bei Cannabis die Norm darstellt, der Joint am Wochenende, das Herstellen eines Ausnahmezustandes, ist beim Tabak die große Ausnahme. Der Tabakraucher raucht sehr viel mehr. Er raucht, typisch für echte Sucht, nicht mehr, um einen besonderen Zustand herbeizuführen, sondern um, von der Sucht gezwungen, in den Normalzustand zurückzukehren. Doch bei aller grundsätzlichen Sympathie für Rauchfrei-Kampagnen: Wenn in der Maschine einer europäischen Fluggesellschaft auf dem Weg in die USA auf Befehl der amerikanischen Regierung bereits über europäischem Boden nicht geraucht werden darf, würde selbst mancher Nichtraucher aus Zorn über solche Bevormundung zum Glimmstengel greifen. Eine weise Drogenpolitik muß immer einen Weg zwischen der Scylla der Drogengefahr und der Charybdis der Bevormundung suchen.

Bleibt die Frage, ob man Tabak und/oder Alkohol verbieten soll. Auch hier helfen Schmidbauer und vom Scheidt, wenn auch nicht expressis verbis, dem Verständnis auf die Sprünge: Es gab viele Versuche, das Bedürfnis nach dem Rausch zu zügeln, das uns offenbar nicht nur in allen Kulturen, sondern sogar im Tierreich begegnet. Bekanntlich halten sich Ameisen Läuse, die einen berauschenden Saft absondern und schaffen Kolleginnen, die zuviel genuckelt haben, zur Ausnüchterung ins Freie.

Im "Handbuch der Rauschdrogen" kann man nachlesen, auf welch breiter Basis im Mittelalter Frauen mit Hilfe der Hexensalben dem unerträglichen Alltag entflogen, in den Akten der Inquisition Näheres über die damalige Suchtgiftpolitik. Die historischen Abschnitte bieten reichlich Material über Drogen als kulturanthropologische Konstante. Offensichtlich hat sich das Bedürfnis nach dem Rausch stets durchgesetzt.

Fragt sich, wie weit sich Drogengebrauch kanalisieren läßt. Fragt sich, ob sich die Unterscheidung erlaubter (die aus dem eigenen Kulturkreis) und unerlaubter Drogen (die aus anderen Kulturkreisen) aufrechterhalten läßt. Fragt sich, ob man die Einwanderung fremder Drogen wie Cannabis in Zeiten der Liberalisierung und Liberalität leichter verhindern kann als den Siegeszug des Tabaks in Zeiten, in denen die staatliche Autorität über viel effizientere Machtmittel verfügte.

Die UNO hat, unklug und unrealistisch, kürzlich beschlossen, die Welt bis zum Jahr 2008 drogenrein zu machen, Cannabis eingeschlossen. Hätte sie Cannabis ausgenommen und den gefährlichen Drogen den Krieg erklärt, könnte sie wenigstens Sympathie beanspruchen. So aber hat sie bloß vor den USA gebuckerlt. Die von den USA weltweit durchgedrückte Drogenpolitik hat deutlich fundamentalistische Züge.

Die Prohibition sollte einst den Alkohol in die Hölle verbannen und verschaffte bloß der Mafia Gelegenheit, ihre Netzwerke auszubauen. Auch heute kann man sagen: Gäbe es nicht die Drogenpolitik der US-Regierung, müßte sie von den Drogenkartellen erfunden werden, denn sie sichert die Preise. Völlige Liberalisierung aller Drogen wäre wohl gefährlich. Wahrscheinlich wäre es am besten, Staaten und Staatengemeinschaften würden ihre eigenen Wege suchen - begründungsorientiert, argumentativ, human, ohne Fundamentalismus, ohne Dreinreden einer Weltmacht.

Das "Handbuch der Rauschdrogen" wäre bei der Willensbildung hilfreich.

HANDBUCH DER RAUSCHDROGEN Von Wolfgang Schmidbauer und Jürgen vom Scheidt Nymphenburger (F.A. Herbig), München 1997 688 Seiten, Tabellen, Ln., öS 569.

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