6685672-1962_15_14.jpg
Digital In Arbeit

DIMITRI MITROPOULOS

Werbung
Werbung
Werbung

Mehr und mehr scheint es, daß der junge Mensch von heute ■“A für seinen Standard lebt. Die tausend Dinge, die erfunden sind, das Leben leicht und angenehm und frei für Besseres zu machen, werden vom Diener zum Herrn, indem sie allmählich und unmerklich das ganze Denken und Planen auf sich ziehen und Körper und Geist, dadurch daß sie ihm die Arbeit abnehmen, schwächen und von sich abhängig machen. Man fragt nicht mehr, ob das Leben eines Menschen auch andere, sogenannte innere Werte hat, und meint, Leben und Arbeit habe kernen anderen Sinn als Geld zu machen, um seine Existenz zu sichern, leicht und angenehm zu leben und — nicht zuletzt — um jenes äußere Ansehen zu gewinnen, das man braucht, um Geltung und persönlichen Erfolg zu haben.

Als Bela Bartök in Berlin weilte und seinen „Wunderbaren Mandarin“, den er eben vollendet hatte, hören wollte, suchte er einen Pianisten, der imstande wäre, den vierhändigen Klaviersatz mit ihm zu spielen. Es wurde ihm ein Schüler Buso-nis empfohlen, der bereits an der Oper als Korrepetitor tätig war. Ein magerer, armseliger junger Grieche betrat zur abgemachten Stunde schüchtern lächelnd den Raum, begrüßte freundlich die Anwesenden und setzte sich alsbald mit Bartök ans Klavier. Ohne alle Mühe spielte er die ihm völlig neuartige Musik trotz ihrer eminenten Schwierigkeit vom Blatt und erregte dadurch das Staunen der Zuhörer, zu denen sich Bartok halb umwandte mit den Worten: „Der wird richtig!“ — Aus dem bescheidenen Musikstudentlein ist Dimitri Mitropoulos geworden.

Da sein Name von New York zu uns herüberklang, war er bereits von jenem besonderen Glanz umgeben, der die Namen der allergrößten Dirigenten umstrahlt. Die erste künstlerische Begegnung mit Mitropoulos bestätigte diesen außerordentlichen Ruf. Man fühlte sich tief beeindruckt von der ungeheuren Dynamik seiner Bewegungen und seiner Interpretation. Von seiner Persönlichkeit ging die überlegene Ruhe und Sicherheit des Weltmannes aus, wie die Ausstrahlung innerer Freiheit und Unabhängigkeit. Seine Äußerungen waren getragen von einem Ton natürlicher Freundlichkeit und Aufrichtigkeit, und im Gespräch spürte man immer wieder nicht etwa den Abstand des Großen, sondern liebenswürdiges Entgegenkommen eines Freundes.

In welchem Gegensatz aber stand der Lebensstil dieses Mannes zu der Vorstellung, die man vom Leben und Standard eines in aller Welt gefeierten Dirigenten hat, der Spitzengagen bezieht und bei dem man, seiner gesellschaftlichen Stellung gemäß, ein Leben in Luxus voraussetzt! Als Chef der New Yorker Philharmoniker, auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt, lebte Mitropoulos in einem drittklassigen Hotel nächst der Philharmonie, gleich einigen Mitgliedern seines Orchesters. Sein Appartement im zwölften Stockwerk bestand aus drei Räumen. In der Mitte des Arbeitsraumes befand sich ein bequemer Fauteuil, und in Abstand davor ein Notenpult mit der eben studierten Partitur und einem Taktstock. Eine Stehlampe mit einer starken Birne sorgte, zusammen mit der Lampe in einem photographischen Beleuchtungsgestell auf dem nahestehenden Tisch, für ausgiebige Beleuchtung. Linter den vielen Dingen, die verstreut diesen Tisch bedeckten, stand griffbereit eine große Schachtel Zigaretten. Ein Flügel war dem Maestro von der Firma Steinway auf Lebzeiten zur Verfügung gestellt worden. An den Wänden hingen Photographien von griechischen Landschaften, die Mitropoulos von seinen Landsleuten zugeschickt worden waren, ferner Reproduktionen von alten Bildern des heiligen Franz von Assisi und ein Kruzifix. Es gab keinen Fernsehapparat, kein Radio, kein Magnetophon, keinen Plattenspieler. Der zweite Raum war ein einfaches Schlafzimmer, und der dritte diente der Aufbewahrung unzähliger Noten und Partituren, die durch Zusendungen der Neuerscheinungen von Verlagen aller Welt an Zahl stets noch mehr und mehr wuchsen. Als man einmal Mitropoulos fragte, warum er sich denn nicht ein eigenes komfortables Heim einrichte, antwortete er: „Ich habe von Jugend auf keinen Sinn für Besitz gehabt. Nicht aus irgendeiner Philosophie, aber ich mag keinen Besitz. So kann ich, wenn ich woanders hin will, ohne Umstände fort.“ — Die Hinterlassenschaft wies außer den Noten und ein paar Büchern nur einen Teil des Mobiliars als Eigentum des Maestro auf. Das unbedeutende Barvermögen reichte gerade bequem zur Begleichung der durch Krankheit und Tod aufgelaufenen Rechnungen für ärztliche Behandlung, Steuern und ähnliches.

Wie wenig Mitropoulos den Wert des Besitzes und Geldes schätzte, geht etwa auch daraus hervor, daß seine Sekretärin das Kuvert mit dem Honorar, das ihm in der Oper während der Pause der Vorstellung überbracht wurde, vorsorglich selbst in Empfang nahm, weil es geschehen konnte, daß der Maestro ohne zu zögern in die Tasche griff und das Kuvert unbesehen herschenkte, wenn ihm beim Verlassen der Oper gerade jemand begegnete, der ihm seine Not klagte. Für seine eigene Person hat Mitropoulos sehr wenig Geld gebraucht — gerade nur soviel, als er zur Bestreitung der notwendigsten Lebensbedürfnisse benötigte. Man kannte ihn nicht anders als in einem stets adretten blauen Anzug mit schwarzer Krawatte und festen Schuhen. „Wenn man alt ist, soll man nicht auffallen.“ Und auch die Probenkleidung bestand, solange man sich erinnern mag, aus einer bestimmten Art Pullover mit weißem übergelegtem Hemdkragen. Bei der Anschaffung des Notwendigen allerdings war er großzügig. Er wählte das Gediegenste und kaufte gegebenenfalls von derselben Sache große Mengen. So ließ er sich den blauen Anzug bei einem der bekanntesten Schneider sechsfach anfertigen, um sich für den nächsten Bedarf das Probieren zu ersparen.

Gewiß war Mitropoulos kein Asket. Er hat zum Beispiel gerne gut gegessen, und wenn er trotz seiner Vorliebe für die Küche von Sacher nicht dort speiste, so war es deshalb, weil er das Aufsehen mied, das sein Erscheinen in der Halle verursachte. Und das Rauchen war eine Leidenschaft, die er selbst dann nicht aufgab, als er dadurch seine sehr angegriffene Gesundheit

aufs äußerste gefährdete. „Ich habe mir so vieles in meinem Leben versagt...“

*

So wie Mitropoulos sich durch Besitz nicht binden lassen wollte, war er auch bestrebt, sich von menschlichen Bindungen freizuhalten. Er brauchte den ganzen Tag — oft bis spät in die Nacht — für seine Arbeit, und es lag ihm daher besonders viel daran, allein und ungestört zu bleiben. Der bloße Gedanke, auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen, machte ihn unruhig. So kam es, daß Mitropoulos trotz seiner liebenswürdigen und gewinnenden Art zeitlebens niemanden ihm wirklich Nahestehenden hatte.

Einladungen, besonders zu offiziellen Empfängen, folgte er nur, um den Gastgeber nicht zu kränken. Nach Möglichkeit wich er ihnen aus. Einem Souper, in dem er gesellschaftlicher Mittelpunkt sein sollte, zog er ein bescheidenes kleines Gasthaus vor, sofern die Küche gut war. „Ich bin ein einfacher Mann — zwar ein Weltmann, aber eben ein einfacher Mann.“ Eine Ausnahme bildeten nur die Musiker, besonders die seines Orchesters in New York, dessen Chef er zehn Jahre lang war. Sie betrachtete er als seine Familie, und in der Arbeit mit dem Orchester vollzog sich gleichsam sein Familienleben. Und wenn es sich um einen Orchestermusiker handelte, hatte er auch Zeit, zu einer Hochzeit oder zu einem Begräbnis zu erscheinen.

*

Ein besonderer Wesenszug Mitropoulos' war seine grenzenlose Hilfsbereitschaft. Griechische Studenten ließ er auf seine Kosten studieren. Orchestermitgliedern schenkte er gute Instrumente. Als ihm einmal ein Taxiunternehmer seiner Heimat schrieb, er habe im Krieg trotz größten Benzinmangels des Maestro Mutter geführt — nun sei sein Wagen alt und er brauchte einen neuen, da schickte ihm Mitropoulos 2000 Dollar. Auf Bedenken, die geraume Zeit nachher die Sekretärin des Maestro äußerte, es sei doch merkwürdig, daß der Mann nie mehr von sich habe hören lassen, erwiderte Mitropoulos bloß: „Man hilft nicht, um Dank zu bekommen.“ So ist es keine Legende, daß der Maestro sein beträchtliches Einkommen zur Gänze verschenkt hat. Das war der Luxus, den Mitropoulos sich leistete.

Aus welcher Wurzel diese Hilfsbereitschaft entsprang, darüber gaben die Bilder des Franz von Assisi an den Wänden seines Arbeitszimmers Aufschluß sowie im seiner Bibliothek die Bücher über das Leben Christi und eben auch über Franziskus, von dessen Wirken Mitropoulos besonders beeindruckt war. Es ist bekannt, daß Mitropoulos aus einer Familie griechisch-orthodoxer Geistlicher stammte. Sein Vater war zwar ein kleiner Kaufmann, aber sein Großvater und drei seiner Onkel gehörten dem geistlichen Stand an. Diese Onkel waren es auch, die dem jungen Studenten, der in den bescheidensten Verhältnissen aufwuchs, in eines der Klöster auf dem Berg Athos brachten, um ihn für ihren Stand zu gewinnen. Aber zwei Umstände ver-anlaßten Mitropoulos, sich gegen den Wunsch seiner Onkel zu entscheiden: seine Begeisterung für die Musik und — die Un-sauberkeit des dortigen Klosterlebens. t

Mitropoulos hat sich aber zeit seines Lebens eine tiefe und echte Religiosität bewahrt. Seinen großen Vorbildern war er treu geblieben, auch als er einer der berühmtesten Dirigenten geworden war. Als ein Mann, dem jeder Luxus offenstand und dessen Anwesenheit sich die große Gesellschaft zur Ehre machte, lebte er ein geradezu mönchisch anspruchsloses Leben, das einem Ziel folgte: den Mitmenschen zu helfen und Großes und Gutes zu tun, als Künstler und als Mensch. Manches wurde mißdeutet, was Mitropoulos tat oder sagte, ohne sich dabei bewußt zu werden, daß er von Leuten, die ihn und seine besondere Eigenart nicht kannten, mißverstanden werden könnte. Es mochte vielleicht wie billige Reklame für

seine Person aussehen, wo er in Wirklichkeit durch den Einsatz seiner Popularität und durch sein Beispiel der Idee des Guten dienen wollte. So etwa, als er sich im Krieg dem Roten Kreuz bei der Einrichtung von Blutbänken zur Verfügung stellte, um durch seine Mithilfe das Interesse für die gute Sache zu erwecken.

*

Zu seinem Glauben, den auch die Auseinandersetzung mit Nietzsche und Sartre nicht erschüttern konnte, bekannte sich Mitropoulos in unbefangener Offenheit. Als einmal geäußert wurde, man könne doch so vieles, was die Religion behauptet, nicht glauben, da es einfach der Vernunft widerspreche, erwiderte er: „Man kann natürlich vieles bezweifeln, aber ich glaube daran, weil ich daran glauben will.“

Musik und Religion lagen bei Mitropoulos nahe beieinander. Dies offenbarte sich einmal besonders schön in einer stimmungsvollen Probe an einem Sonntagvormittag in Salzburg. Es wurde ein Klavierkonzert von Mozart probiert. Bei einer Stelle hielt Mitropoulos plötzlich inne, sah einen Moment ins Orchester und sagte: „Es gibt Menschen, die behaupten, es gibt keinen Gott. Das hier — das Genie Mozart — ist der Beweis, daß es Gott gibt.“

Manchmal, wenn der Maestro bei einer Aufführung das Podium betrat, konnte man ihn, bevor er begann, einen Moment stillstehen sehen mit geschlossenen Augen und ineinander-gelegten Händen, wie bei einem kurzen Gebet. In seinem letzten Salzburger Sommer hatte er Mahlers „Symphonie der Tausend“ zu dirigieren. Kaum oder, besser gesagt, gar nicht genesen von

seiner letzten schweren Erkrankung, war er in einer der Proben, die unter einem schlechten Stern stand, zusammengebrochen. Mal befürchtete das Schlimmste Bei der Generalprobe jedoch betrat er ruhig und mit zuversichtlichem Lächeln das Podium und sagte angesichts der vor ihm versammelten Masse der Mitwirkenden: „Jetzt machen wir ein Gebet, daß es morgen gut geht.“

*

Daß Mitropoulos die Arbeit nicht als Mittel betrachtete, Reichtümer zu erwerben oder Erfolg für seine Person zu gewinnen, erklärt sich aus all dem bisher Erzählten. Es bestätigt sich aber auch darin, daß Mitropoulos einen großen Teil seiner Zeit der undankbarsten Aufgabe eines Dirigenten widmete, nämlich der Aufführung unbekannter und noch nicht arrivierter zeitgenössischer Komponisten. „Ich bin nicht auf Erfolg bedacht. Es macht mir Freude, einen jungen Komponisten aufzuführen und dann sein strahlendes Gesicht zu sehen.“ Und für das Studium eben eines solchen Werkes konnte er — vielleicht für eine einzige Aufführung — die volle Arbeitszeit von zwei Monaten verwenden, um es genauso gründlich — mit allen Studierzahlen — auswendig zu lernen, wie die bekanntesten Werke, die von allen Dirigenten dirigiert werden und den strengsten Maßstab verlangen. „Ich habe die Aufgabe übernommen und muß sie ausführen wie jede andere.“

Jeder Künstler nimmt Angebote der Schallplattenfirmen, Aufnahmen zu machen, gerne an. Sie sind gut bezahlt und tragen den Namen in alle Welt. Von Mitropoulos gibt es nur ganz wenige Platten. Er sagte, er habe dazu keine Zeit.

Natürlich erwartete sich der Maestro von seinen „Mitarbeitern“ im Orchester und auf der Buhn den gleichen Einsatz. Und wenn er einmal Mangel an Aufmerksamkeit oder gar vielleicht inneren Widerstand gegen seine Auffassung zu spüren meinte, da wurde er nicht böse, aber mit verzweifeltem Ausdruck rechtfertigte er sich: „Das ist meine Auffassung. Ich sage nicht, daß sie richtig ist oder besser als eine andere, aber es ist meine Auffassung, und ich bin davon überzeugt, weil ich darüber nachgedacht habe. Vielleicht habe ich nicht recht. Aber das ist mein Gewand. Und ich muß für meine Auffassung einstehen.“

„Freizeit“ kannte Mitropoulos keine — vielleicht fügte es sich einmal, daß er ins Kino ging, um sich einen „Westerner“ oder einen Kriminalfilm anzusehen. Wenn er aber einmal aus irgendeinem Grund keine Möglichkeit hatte, zu arbeiten, dann wußte er nicht, was er mit seiner Zeit beginnen sollte. Als ihn seine schwere Krankheit zu längerem Spitalsaufenthalt zwang und er furchten mußte, die Ärzte würden ihm vielleicht in Anbetracht seines Zustandes nicht mehr gestatten, zu dirigieren, war er zutiefst deprimiert. Aus dem Spital entlassen, wich er ihnen aus und auch den Menschen, die ihn bereden könnten, sich zu schonen und auf seine Arbeit zu verzichten. Wie einst der musikbegeisterte Jüngling auf dem Berg Athos sah sich nun der vom Tod gezeichnete Maestro abermals vor eine Alternative gestellt, diesmal die ernsteste, nämlich sein Leben zu erhalten oder — zu dirigieren. Er entschied sich wiederum für die Musik — und starb denn auch, wie er es sich gewünscht hatte: auf dem Podium — mitten in seiner Arbeit.

So rundet sich das Bild eines Menschen, der von dem Wunsch erfüllt war, Gutes und Großes zu tun, und diese Aufgabe vor sein Leben gestellt hat. War es dies, was man aus der ungeheuren Dynamik seiner Interpretation fühlte und was ihn zur eigenartigsten Persönlichkeit stempelte? War es, was er einmal mit den Worten ausdrückte: „Bevor ich eine Note gelernt habe, habe ich gelernt, meinen Nächsten zu lieben“?

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung