Das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören

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In „Scherbenhelden“ beschreibt Johannes Herwig eine adoleszente Sinnsuche im Punk-Milieu der 1990er Jahre.

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In „Scherbenhelden“ beschreibt Johannes Herwig eine adoleszente Sinnsuche im Punk-Milieu der 1990er Jahre.

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Leipzig, 1995: Zufällig stolpert Nino in jene Gruppe Punks, die im weiteren Verlauf zur Triebfeder seiner Suche nach Zugehörigkeit, Sinn und Normalität in der Nachwendezeit in Ostdeutschland wird. Gewaltvolle Zusammenstöße mit Passanten und Neonazis gehören dabei ebenso zum Alltag wie Drogen- und Party­exzesse, eskalierende ­Demonstrationen und das Austesten von Grenzen. Insofern erinnert „Scherbenhelden“ zwar deutlich an Manja Präkels’ Buchdebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2018), folgt zugleich aber einer ganz anderen literarischen Ästhetik. Kennzeichnete ­Präkels’ fragmentarisch-verknappte Prosa ein bitterer, provokant-direkter Erzählton, schreibt Herwig seinen ­(Scherben-)­Helden – die allesamt aus benachteiligten und/oder dysfunktionalen Familienverhältnissen stammen – eine flüssige, ungekünstelte Szenesprache zu, die rechtsextreme Gewalt und das Schweigen der Erwachsenen zwar nicht so bedingungslos anklagt wie sein Vorgänger.

Werte- und Identitätsverlust

Die Kontinuität rechtsradikaler Ideologien während und nach der DDR wird in dem dicht getakteten Jugendroman aber ebenso problematisiert wie das ambivalente Verhältnis zu einer Zeit, auf die man trotz aller Einschränkungen mit etwas Wehmut zurückblickt. Denn nicht für alle birgt die Wende vielversprechende Zukunftsaussichten: Seitdem Ninos Mutter gleich nach der Öffnung der DDR ihre Familie für ein „freies“ Leben im Westen verlassen hat, steckt der Vater in einer Depression. Wie in vielen anderen Branchen bleiben auch in seiner Schuhwerkstatt die Kunden aus. Mit dem Arbeits- und Werteverlust gehen in der Bevölkerung ein Verlust der Identität und ein Gefühl des Fremdseins einher, das auch Nino zu schaffen macht und das Johannes Herwig mit einfachen, aber ebenso konzisen wie eindringlichen Mitteln einzufangen versteht: „Vielleicht ist es das Gefühl, nirgendwo so richtig dazuzugehören […]. Draußen zu stehen. Das vielleicht auch so zu wollen. Aber irgendwie auch Wut darauf zu haben.“

Im Angesicht der Orientierungslosigkeit zwischen euphorischer Aufbruchsstimmung und zerstörten Hoffnungen erprobt sich Nino im Punksein – und hinterfragt auch diese Szene durchaus kritisch. ­Adoleszente Sinnsuche wird dabei auf vielschichtige Weise mit (gesellschafts-)politischen Umbrüchen verschränkt und zeitgeschichtliche Ereignisse subtil in eine überzeugende jugendliche Ich-Perspektive eingeschrieben, die der Autor mit stimmigen pop- und subkulturellen Bezügen durchsetzt.

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