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"Maries Gespenster": eine Geschichte von Abschied und Neubeginn.

Es sind keine klassischen Gespenster, die die 39-jährige Schweizer Autorin Simona Ryser in ihrem Debütroman "Maries Gespenster" umgehen lässt. Sie begleiten einen aber durch Tage und Nächte, manchmal vergisst man sie, dann wieder tauchen sie unvermutet auf. Und sie verschwinden, wenn man sich ihnen stellt.

Das Leben von Marie, der Protagonistin, ist nach dem Tod ihrer Mutter aus dem Ruder gelaufen. Ein "Familienreich" löst sich auf. Und so ist auch Maries Leben in Auflösung begriffen. Sie versucht dem entgegenzusteuern, indem sie sich in zahlreiche Aktivitäten stürzt. Listen und Nummernkombinationen sollen ein System in ihre zerfließenden Tage bringen, sie geht ins Café und liest Zeitung, schaut fern, probiert an den Degustationsständen im Kaufhaus die erlesensten Köstlichkeiten, sitzt am Fenster und beobachtet die Nachbarn, streift durch die Stadt. Wie eine Wölfin. Versucht jeden Tag einen Neubeginn. Doch funktioniert dies nicht so ganz. Was normal scheint, und was alle täglich tun, hat bei Marie immer den Beigeschmack von Un-Echtheit und wird auch auf erzählerischer Ebene durchbrochen. So zahlt sie ihre Einkäufe im Kaufhaus mit der Kreditkarte eines ihrer Verehrer, sie steht vor der Kasse und weiß den Pin-Code nicht mehr, was ihr aber irgendwie nichts auszumachen scheint. Alles geliehen? Alles Ersatz?

Klar und verborgen

Der Alltag Maries wird in kurzen, nummerierten Sequenzen geschildert, die sich, intelligent durchkomponiert, zu einem Gesamten fügen. Bereits im Motto des Romans: "Rumpelstilzchen: Computerprogramme, die im Hintergrund arbeiten" findet sich ein entscheidender Hinweis: das Hintergründige, das in der musikalischen Leichtfüßigkeit und Klarheit des Textes verborgen ist, ist der Motor des Buches. Da ist Wolf, Objekt des Begehrens, der ihr immer wieder entwischt, dem sie jedoch auf der Spur bleibt - "Beutetier oder Alphaweibchen"? -; da sind die sensiblen, fein gewobenen Erinnerungen an das Leben, die Krankheit und das Sterben der Mutter, die Marie Rumpelstilzchen nennt. Rumpelstilzchen, das wutentbrannt in die Erde versinkt, nachdem sein Name erraten wurde, und Mutter, die lautlos stirbt: ihr möchte Marie den Namen zurückgeben, um sie aus dem Schweigen zu erlösen. Die tote Mutter begegnet der Protagonistin im Bus, in der Straßenbahn, in der Bahnhofshalle; sie ist das Gespenst, das Marie gleichzeitig erinnern und loslassen möchte. Wie ihr dies letztendlich gelingt, sei hier nicht verraten.

Erinnern und loslassen

Der Roman ist in seinen Bildern und Codes erfrischend heutig, ohne zeitgeistig zu sein. Doch kommt eine zusätzliche, für die Tiefenstruktur des Textes wesentliche Dimension hinzu: Die Autorin, die Philosophie und deutsche Literatur studierte und als Verlagslektorin und Opernsängerin arbeitete, flicht in zahlreichen Bezügen den Motivkomplex rund um Georg Büchners Drama "Woyzeck" ein.

Dies beginnt bei der Namensgebung der Protagonistin und findet sich verdichtet auf mehreren Ebenen wieder: Woyzeck wird von Stimmen getrieben, Marie streift durch die Stadt, "einsam in der Nacht", "total verhetzt, wie eine richtige Wölfin". Wunderbare literarische Stadtpassagen sind dabei das Ergebnis. Wolf wiederum ist, wie Woyzeck, von etwas Geheimnisvollem, schwer Fassbaren gefangen, allerdings ganz zeitgenössisch in der digitalen, elektronischen Welt. Letztendlich aber ist die intensivste Anlehnung an Büchners Drama die Darstellung von Bedrängnis und Verwundbarkeit des Individuums in einer Krisensituation.

Endet "Woyzeck" jedoch in Finsternis, Verzweiflung und Tod, findet Simona Ryser für ihre Marie einen anderen, hellen Weg, ein wenig wie im Märchen: Sie schenkt ihr ein zartes, aber beständig anmutendes sich Einfinden in der Wirklichkeit.

Maries Gespenster

Roman von Simona Ryser

Limmat Verlag, Zürich 2007

134 Seiten, geb., € 18,-

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