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CHINA UND DIE CHINESEN

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Ich bin nie in China gewesen und befürchte, daß ich, wenn ich hinführe, dieses Land nicht leiden könnte. Wahrscheinlich fände ich es zu groß, zu übervölkert, eine weite Wüste fremder Gesichter, Geräusche und Gerüche. Aber mein ganzes Leben lang habe ich mich an den, durch die winzigen Fenster seiner Malerei, Zeichnungen, Töpferkunst, Gedichte und weiser Anekdoten erhaschten Blick in das Himmlische Kaiserreich erfreut. Ich möchte kein neuzeitliches China, weder nach amerikanischem noch nach russischem Muster. Die Welt scheint so viel ärmer zu sein, seit das phantastische alte Kaiserreich in Rauch aufging — mit all seinen dichtenden Beamten, philosophierenden Generälen, unvorstellbaren Kaisern und ihren goldenen Mädchen — und nun nichts als ein weites asiatisches Land mit nach Zigaretten und Konservenbüchsen schreienden Leuten übriggeblieben ist. Wenn ich etwas über die chinesischen Feste lese, über blühende Mandelbäume und Weiden — ein sanftes Grün im Regen —, erfüllt Freude mein Herz; dagegen läßt mich jede Neuigkeit vom chinesischen Gewerkschaftskongreß völlig kalt. Ich muß also zu jenem winzigen Fenster zurückkehren, durch die Jahrhunderte lärmenden, wimmelnden Lebens zu einem zarten knospenden Zweig zusammengeschrumpft sind, zu einem Fluß im Silberregen, einem schlitzäugigen, in Meditation vertieften Weisen, einem schlanken namenlosen Mädchen, einem Fisch oder Vogel oder Maulbeerblatt, einer Schale Wein unter dem Mond.

Aus: „Köstlich - köstlich.'Von ]. B. Priestley (Laiigcn-MülUr-Vtrlat, München).

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