7060893-1991_36_04.jpg
Digital In Arbeit

Bei den Zigeunern im Adlergebirge

19451960198020002020

Vierzehn Tage lang hat sich eine böhmische Untergrundkirche einem Experiment gewidmet: der Betreuung von Zigeunerkindern im Rahmen eines Sommerlagers. Die Kinder, die teilweise aus völlig devastierten Familien stammen, haben nur ungern von ihren „Pflegeeltern", zum Teil verheiratete Priester, Abschied genommen.

19451960198020002020

Vierzehn Tage lang hat sich eine böhmische Untergrundkirche einem Experiment gewidmet: der Betreuung von Zigeunerkindern im Rahmen eines Sommerlagers. Die Kinder, die teilweise aus völlig devastierten Familien stammen, haben nur ungern von ihren „Pflegeeltern", zum Teil verheiratete Priester, Abschied genommen.

Werbung
Werbung
Werbung

Der verheiratete seinerzeitige Untergrundbischof Fridolin Zahradnik aus Rychnov (Reichenau) im Adlergebirge (FURCHE 32/1991)hatmit seinen Mitarbeitern - allesamt freiwillige Helfer einer Emmaus-Ge-meinschaft - im August ein Ferienlager für Zigeunerkinder des Bezirkes Rychnov veranstaltet. Um ein ehemaliges Ferienheim der Kommunistischen Jugend, in einem Wald neun Kilometer nördlich von Rychnov, wurde ein Zeltlager aufgebaut, das 46 Kinder im Alter von acht bis 15 Jahren zwei Wochen lang beherbergte.

Das „Feriendorf dominierte ein selbstgebasteltes Kreuz, dessen „Heiligenschein" aus Stacheldraht bestand. Niemand kümmert sich um die Tausenden von Zigeunern, die heute in Böhmen und Mähren leben, zum Teil aus der Slowakei mit mehr oder weniger Zwang ausgesiedelte Roma. Der frühere slowakische Premier Vladimir Meclar hat den slowakischen Zigeunern den Weggang in die Tschechei mit 15.000 Kronen plus 5.000 Ablöse für die Wohnung schmackhaft gemacht. Jetzt siedeln beispielsweise in Mährisch-Ostrau entweder bei Verwandten, deren Familien sich damit meistens verdoppelt haben, oder in Wohnungen von abgezogenen Sowjetsoldaten 40.000 Zigeuner; bisher waren es 10.000. Der Sohn eines Geheimpriesters aus der Gruppe Zahradnik ist zur Zeit Beauftragter der Stadt Mährisch-Ostrau für Probleme der Zigeuner.

In Rychnov in Böhmen, in der Nähe von Königgrätz, will Zahradnik eine Zigeunerseelsorge aufbauen. „Ich will ja nicht giftig sein", gesteht er der FURCHE, „aber die offizielle Kirche hat uns außer ihrem Segen dafür nichts gegeben." Aber Zahradnik ist ein Mann, der zupacken kann. Mit seinen Mitarbeitern ging er auf Bettelreise. Er brauchte Stahlrohrbetten, Bettzeug, Wäsche, Nahrungsmittel, Zelte. Bischof Zahradnik hat unter anderem in Österreich für sein Ferienlager gesammelt. Die Bevölkerung von Rychnov und Umgebung hatte wenig Verständnis für die erbetene Hilfe für die Zigeuner. „Niemand wollte begreifen, daß man sich um diese Mitbürger kümmern muß."

Roma-Beauftragter

In der Tat, die Zigeuner brauchen vor allem Rechtshilfe, da sie nicht einmal wissen, daß es eine staatliche Familienbeihilfe gibt und wie sie zu dieser kommen. In Zusammenarbeit mit Zahradnik, der den Behörden der Bezirksstadt auch bei der Aufarbeitung der Akten der Geheimpolizei hilft, hat der Reichenauer Magistrat Peter Jano, selbst Zigeuner, als Roma-Beauftragten angestellt, der ihnen zu ihrem Recht verhelfen soll.

Im Zigeunerlager selbst arbeiteten Freunde der Emmaus-Gemeinschaft Bischof Zahradniks mit den Kindern - größtenteils Studenten, aber auch der von Bischof Zahradnik geheim geweihte Priester Jozef Suchar, der eine besondere Begabung für den Umgang mit Kindern hat und von Rokytnice aus elf Gemeinden im Adlergebirge betreut.

Hilfe für „Woihynier"

Jeder Tag begann für die Kinder, die dem Bischof und seinen Mitarbeitern sehr großes Vertrauen entgegenbrachten, mit einem Motto. Die Betreuer-Gruppe versuchte damit, das soziale Verhalten der Kinder zu fördern und zu festigen. Über dieses Motto, über Spiele und Lieder begann man auch, die Zigeunerbuben und -mädchen religiös zu erziehen. Wer den Umgang der Gruppe Zahradniks mit diesen Kindern, deren Begeisterung beim Tanz ums Lagerfeuer, erlebt hat, kann sagen, daß das Experiment geglückt ist.

Zahradnik will über die Roma-Kinderauch an deren Familien herankommen. Er ist jetzt auf der Suche nach einem geeigneten Haus in Rychnov, wo er Familienrunden veranstalten will. Das soll dann die zweite Stufe der Zigeunerbetreuung sein, die mit dem Ferienlager begonnen hat.

Ein weiteres Arbeitsgebiet dieser Teil-Untergrundkirche, der die rechtliche Anerkennung seitens Roms bisher versagt blieb, ist die Hilfe für die sogenannten Wolhynier-Tschechen. Das sind jene Landsleute, deren Vorfahren vor mehreren Generationen von den Zaren dazu animiert, in die Ukraine ausgewandert sind und die heute - hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen, weil sie im Gebiet von Tschernobyl lebten - wieder „nach Hause" kommen wollen. Die Regierung hat ihnen leere Wohnungen zur Verfügung gestellt, meistens in der nordböhmischen, ehemals sudetendeutschen Gegend. Dann fehlen aber auch schon die Mittel, um den Wolhynier-Tschechen weiterzuhelfen.

Pfarrer Jozef Suchar beispielsweise hat unlängst 21 Familien aus der Ukraine offiziell begrüßt, neun Familien sollen noch in die Umgebung von Rokytnice übersiedeln. Die Behörden sind heilfroh, daß die Emmaus-Gemeinschaft den „Wolhyniern" Starthilfe bietet. Sucharwörtlich: „Ich werde an der Arbeit nicht gehindert, aber dazu auch nicht ermutigt, ich muß selbst initiativ werden, wenn ich mit den Wolhyniern etwas weiterbringen will." Die Teil-Untergrundkirche Zahradniks versteht ihre Arbeit mit den Zigeunern und „Wolhyniern" als missionarischen Auftrag, wobei konkrete humanitäre sowie rechtliche Hilfe und Missionierung ineinander überfließen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung