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Der Pontif ex des „zweiten Rom“

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Mehr als 1200 Journalisten, Photographen und Kameraleute waren nach Jerusalem gekommen, um über das zu berichten und das im Bild festzuhalten, was Papst Paul VI. eine „wahrhaft historische Stunde“ nannte: nach 910 Jahren der Trennung trafen das Oberhaupt der römisch-katholischen und der höchste Repräsentant der orthodoxen Kirchen, der ökumenische Patriarch Athenagoras I., zusammen. Das war am 6. Jänner 1964. Diese Begegnung war eine Sternstunde der Ökumene. Athenagoras legte dem Papst, der für die orthodoxen Kirchen als Schismatiker galt, ein Enkolpion um, jenes Medaillon, das die orthodoxen Bischöfe tragen. Diese Geste ließ sich kaum anders deuten als in dem Sinn: Du bist unser bischöflicher Bruder. Und der Papst schenkte dem Patriarchen von Konstantirtopel, dem Repräsentanten des „zweiten Rom“, einen Meßkelch, und das konnte nur heißen: Unsere Kirchen verbinden die gemeinsamen Sakramente. Der Nachfolger Petri und der Nachfolger des Apostels Andreas hatten zueinandergefunden. Fast zwei Jahre später, am 7. Dezember 1965, dem Tag, an dem das Zweite Vatikanische Konzil endete, hoben Katholiken und Orthodoxe die Exkommunikation auf, mit der sie sich 1054 gegenseitig belegt hatten.

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Mehr als 1200 Journalisten, Photographen und Kameraleute waren nach Jerusalem gekommen, um über das zu berichten und das im Bild festzuhalten, was Papst Paul VI. eine „wahrhaft historische Stunde“ nannte: nach 910 Jahren der Trennung trafen das Oberhaupt der römisch-katholischen und der höchste Repräsentant der orthodoxen Kirchen, der ökumenische Patriarch Athenagoras I., zusammen. Das war am 6. Jänner 1964. Diese Begegnung war eine Sternstunde der Ökumene. Athenagoras legte dem Papst, der für die orthodoxen Kirchen als Schismatiker galt, ein Enkolpion um, jenes Medaillon, das die orthodoxen Bischöfe tragen. Diese Geste ließ sich kaum anders deuten als in dem Sinn: Du bist unser bischöflicher Bruder. Und der Papst schenkte dem Patriarchen von Konstantirtopel, dem Repräsentanten des „zweiten Rom“, einen Meßkelch, und das konnte nur heißen: Unsere Kirchen verbinden die gemeinsamen Sakramente. Der Nachfolger Petri und der Nachfolger des Apostels Andreas hatten zueinandergefunden. Fast zwei Jahre später, am 7. Dezember 1965, dem Tag, an dem das Zweite Vatikanische Konzil endete, hoben Katholiken und Orthodoxe die Exkommunikation auf, mit der sie sich 1054 gegenseitig belegt hatten.

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Solche Begegnungen sind Stunden der Gnade. Doch das Wdrken Gottes manifestiert sich in Menschen — und in entscheidenden Situationen in außergewöhnlichen Menschen.

Athenagoras I., der vor wenigen Tagen in Istanbul starb, gehörte zu diesen besonderen Menschen. Papst Paul VI. nannte ihn in einer Gedenkansprache einen „Vorkämpfer und Apostel der Wiedervereinigung der griechisch-orthodoxen Kirche mit jener von Rom und auch mit den anderen Kirchen und christlichen Gemeinschaften“. Im ökumenischen Dialog, insbesondere mit Rom, ist eine der bedeutendsten Stimmen verstummt.

Athenagoras wurde am 25. März 1886 als Sohn eines griechischen Arztes in Tsarplana, einem Dorf des Osmanischen Reichs, geboren. Sein bürgerlicher Name war Aristokles Spyrou. 1903 tritt er in das Gymnasium in Chalki ein; 1907 beginnt er dort an der angesehenen orthodoxen Hochschule mit dem Studium, das er im März 1910 abschließt. Er wird zum Diakon geweiht und nimmt den Namen Athenagoras an. Als Diakon wird er in die Diözese Pelagonia gerufen und beaufsichtigt das Schulwesen. 1912 wird er Erzdiakon dort. 1920 geht er als Erzdiakon und Sekretär des Erzbischofs nach Athen. Im Dezember 1922 wird er zum Bischof von Kerkyra und Paxos gewählt; Priester- und Bischofsweihe finden in Athen statt. 1930 fungiert Athenagoras als Sekretär der Vorbereitungskommission für eine orthodoxe Prosynode in der anglikanisch-orthodoxen Kommission in London. Im selben Jahr erfolgt die Ernennung zum orthodoxen Erz-bischof von Nord- und Südamerika. Am 1. November 1943 wird Athenagoras zum ökumenischen

Patriarchen von Konstantinopel gewählt. Mit diesem Amt ist der Ehrenprimat über die 14 selbständigen orthodoxen Kirchen verbunden.

Die Laufbahn des Patriarchen ist für einen orthodoxen Geistlichen ungewöhnlich. Er hat „Karriere gemacht“. Doch davon merkte man dem liebenswürdigen und bescheidenen Mann, der wie ein Mönch auf dem Phanar, dem Sitz des Patriarchen in Konstantinopel lebte, nichts an. Wichtiger an dieser Laufbahn ist der Umstand, daß sie Athenagoras an Brennpunkte des kirchlichen Lebens führte. Chalki, die inzwischen von den türkischen Behörden geschlossene Hochschule des Patriarchats von Konstantinopel, galt als „Kaderschmiede“ der Orthodoxen Kirche (Athenagoras führte dort später eine Vorlesung über die Geschichte der ökumenischen Bewegung ein). Athen, das den Auslandsgriechen ruft, ist neben Konstantinopel der zweite Brennpunkt der griechischen Orthodoxie: politische und kirchliche Probleme überschneiden sich dort in jenen Jahren. Kerkyra (Korfu) bringt die erste Begegnung mit römischen Katholiken. Vorbereitung der orthodoxen Prosynode und Sekretariat der anglikanisch-orthodoxen Kommission in London schärfen den Blick für die Probleme der auseinanderstrebeoden orthodoxen Kirchen und öffnen ihn für die Kirchen der Reformation. Amerika schließlich läßt Athenagoras die Welt eines modernen Staates und seiner Gesellschaft kennenlernen. Als Athenagoras auf den Patriar-chenthron von Konstantinopel gerufen wird, kehrt ein Mann, der die Kirche und die Welt kennt, an den Ort zurück, wo er als Kind der

Diaspora und der Provinz seine Siu dien begonnen hatte.

Gerade die 18 Jahre, die Athenagoras in Amerika verbracht hat, scheinen ihn geprägt zu haben. Hier beendete er den Streit zwischen den Anhängern Athens und Konstantinopels unter den Orthodoxen. Der Schmelztiegel Amerika läßt den Gedanken aufkommen, dort eine selbständige orthodoxe Kirche Amerikas mit englischer Kultsprache zu gründen, die alle orthodoxen Gruppen dort einigen könnte. In Amerika lernt Athenagoras neue kirchliche Strukturen kennen. Hier kommt es auch zu engeren Kontakten mit dem Protestantismus.

Als Athenagoras 1949 als Patriarch von Konstantinopel inthronisiert wird, gilt er für viele Orthodoxe als „Amerikaner“. Politisch weiß er bisweilen tatsächlich mit der amerikanischen Karte zu reizen. Doch in einem gewissen Sinne ist er Kosmopolit. Aufgewachsen zwischen türkischen Mitbürgern in einer Zeit des friedlichen Miteinanders wirkt er als Mann des nationalen Ausgleichs. Der Zypernkonflikt erschüttert ihn später tief.

Athenagoras repräsentiert in seinem Erzbistum keine orthodoxe Staatskirche, sondern eine religiöse Minderheit von rund 35.000 Orthodoxen, die im Umkreis von Konstantinopel wohnen. Trotzdem ist seine Residenz im ärmlichen Stadtteil Phanar ein Kristallisationspunkt der Christenheit. Hier treffen sich nicht nur die Vertreter der orthodoxen Kirchen, hierhin kommen auch die der reformierten Kirchen und die der römischen Katholiken.

Athenagoras war es, der wieder den Blick dafür öffnete, daß Ökumene sich nicht nur auf die Begegnung zwischen Katholiken und Protestanten beschränken darf. In diesem Sinn wurde der Phanar zu einem wichtigen Pfeiler für den ökumenischen Brückenschlag. Mit Rom verbinden ihn apostolische Sukzession und Sakramente, mit den Protestanten die Ablehnung des päpstlichen Primats. Konstantinopel wurde durch Athenagoras zur Nahtstelle zwischen den Kirchen des Ostens und dem abendländischen Christentum. Der Patriarch von Konstantinopel, der meist nur als „prineeps inter pares“ bezeichnet wird, genießt mehr als eine nur protokollarische Sonderstellung in der Rangfolge der orthodoxen Hierarchie, er trifft die Entscheidung bei der Gründung neuer autokephaler Kirchen, er ist höchste Berufungsinstanz der Orthodoxie, hat das Recht, orthodoxe Konferenzen und Synoden einzuberufen und vertritt — nach Abstimmung mit den Bischöfen der Orthodoxie — die Ostkirchen gegenüber anderen Kirchen.

Das Wort vom „Ehrenprimat“ beschreibt diese Stellung nur unvollkommen.

Athenagoras hat diesen Ehrenprimat sehr weit ausgelegt Insbesondere seine Kontakte mit Rom führten zu Spannungen innerhalb der Orthodoxie; seine Reise nach Jerusalem und die Begegnung mit Paul VI. wurde nachträglich als „persönliche Pilgertahrt“ bezeichnet, die keinen bindenden Charakter für die Orthodoxie besitze. Die Rivalität zum Patriarchat von Moskau, das sich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts als das „dritte Rom“ versteht und vermutlich heute noch mehr als 50 Millionen orthodoxer Christen vertritt, lebte bei diesem Anlaß wieder auf. Auch die erste Einladung zum Zweiten Vatikanischen Konzil warf Kompetenzschwierigkeiten auf: Konstantinopel durfte wegen des Einspruchs einiger orthodoxer Bischöfe — wohl entgegen dem Wunsch Athenagoras' — in Rom die Gesamtheit der Ostkirchen nicht vertreten.

Rivalität und Eingrenzung der Kompetenzen sind Indizien dafür, daß auf dem Phanar ein ökumenischer Patriarch residierte, der bei aller Bescheidenheit Macht besaß. Diese Macht war nicht äußerlicher Art. Athenagoras gehörte zu den Kirchenführern, die einen schlichten, aber festen Glauben besaßen. Und dieser Glaube ließ ihn hoffen, schärfte seinen Blick, jenseits von taktischen Überlegungen und Prestigedenken, für das Ärgernis der gespaltenen Christenheit. Er machte sich bescheiden, aber gleichzeitig zäh und entschlossen auf den Weg zur Einheit, obwohl er ahnte, daß es ihm bestenfalls gelingen könnte, wie Moses den Blick in das gelobte Land werfen zu dürfen.

Solche Männer fordern Widerspruch geradezu heraus. Man hat Athenagoras als „Simplifloateur“ be-

Den Menschen die Frohbotschaft zu bringen und ihnen auch bei ihren leiblichen Nöfen zu helfen, ist Aufgabe der Missionäre. W'r wollen sie bei dieser Arbeit unterstützen. zeichnet, und er selbst scheint gelegentlich Anlaß zu einer solchen Beurteilung gegeben zu haben — etwa mit der Äußerung, man solle alle Thealogen auf einer Insel aussetzen und sie dort streiten lassen, bis sie sich einig geworden seien; kehrten sie zurück, so würden sie wahrscheinlich schon eine geeinigte Christenheit vorfinden. Das sind für einen Dogmatiker unverantwortliche Vereinfachungen. Hierin äußerte sich für ihn jedoch keine Geringschätzung oder gar Ablehnung der Dogmatik — das beweist sein Hirtenbrief nach der ersten Begegnung mit Papst Paul VI., in dem er das Verbot für die orthodoxen Christen erneut bekräftigt, die Sakramente in anderen Kirchen zu empfangen.

Für Athenagoras sind die dogmatischen Probleme keine Nebensächlichkeiten gewesen; durch seinen Dialog der Liebe und der Brüderlichkeit hat er jedoch wieder bewußt gemacht, daß die Dogmatik nicht das einzige Fundament der Kirche ist. Das einfache Gebot der Gottes- und Nächstenliebe — bei vollem Respekt vor der Veif aßtheit und Tradition der Kirche — scheint Athenagoras die Kraft und die Hoffnung gegeben zu haben für die brüderlichen Schritte, den anderen christlichen Kirchen entgegen. Der Weg zu den Kirchen der Reformation dürfte dabei für ihn kaum leichter gewesen sein als der nach Rom.

Im alten Rom nannte man die Priester „Pontifices“, Brückenbauer. Athenagoras hatte geahnt, daß er die Brücke zwischen den Konfassionen selbst noch nicht bauen oder gar vollenden könne. Doch er gehörte zu den hervorragenden Männern der Ökumene, die den Mut besaßen, in mühsamer und demütiger Kärrnerarbeit Steine für das Fundament zusammenzutragen. Vielleicht verläuft über diese Steine des Fundaments bereits eine Furt, auf der die Arbeiter stehen können, wenn es gilt, die Brücke zu bauen.

Der Tod Athenagoras' I. reißt eine tiefe Lücke in die Welt der Ökumene. Es war nicht zuletzt seine Persönlichkeit, die ihn befähigte, die auseinanderstrebenden orthodoxen Kirchen zu einigan und damit ver-handlunigsfähig für den Dialog mit den anderen Christen zu machen. Persönlichkeiten dieser Prägung, fromm und gleichzeitig welterfahren, konservativ und gleichzeitig unkonventionell, gütig und zugleich fest in Grundsatzfragen, sind in der Orthodoxie nicht zahlreich vertreten. Ob es seinem Nachfolger gelingen wind, an der Brücke zur Ökumene, aber auch an der zwischen den orthodoxen Kirchen weiterzubauen, ist fraglich. Es wäre möglich, daß sich das agile und sowjetfreundlichere Moskauer Patriarchat, das „dritte Rom“, dem die größte orthodoxe Gruppe unterstellt ist, in eine Führungsrolle drängt.

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