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Der Stuhl

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Der Stuhl ist im Büro der Rangniedrigste. Und er hat keine Chance, es je zu einem Ledersessel zu bringen, nicht einmal zu einem einfach gepolsterten Sekretärsessel. Wenn sein Besitzer Karriere macht, läßt er ihn einfach stehen.

Frei ist der Stuhl erst, wenn alle Menschen das Büro verlassen haben. Da fällt er vor Müdigkeit in sich zusammen und schläft sofort ein. Im Traum ist er kein Stuhl mehr. Er ist ein stolzes Roß, das einen Ritter in den Kampf tragen könnte.

Ach was — er braucht keinen Ritter! So stark und frisch und kampflustig wie er ist, wird er leicht selbst mit den Feinden fertig werden!

Tratatataaaa! Hurraa! Zum Angriff!

Was? So viele Feinde? Das gibt's doch nicht! Prrr! Bremsen! Keinen Schritt weiter! Er erinnert sich selbst, im Traum, daß er doch nur ein Stuhl ist und sich zurückhalten muß.

Angst? Er hat keine Angst: Er kann sich sogar auf die Hinterbeine stellen. Vielleicht kann er jemanden abschrecken.

Er hat niemanden erschreckt, weü man ihn einfach nicht bemerkt hat. Er ist sehr damit zufrieden. Er zeigte, daß er sich auf die Hinterbeine stehen kann, das reicht ihm. Er senkt — im Traum — kokett den Kopf und streckt einladend — im Traum — die Sitzfläche aus. Er denkt dabei - im Traum — daran, daß er morgen, wenn der Bote sich auf ihn setzen wird, er ihn mit einem Nagel in das Hinterteü stechen wird.

Der Stuhl ist der Rangniedrigste im Büro. Bei den Rangniedrigsten im Büro sind selbst die Träume bescheiden.

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