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Die beiden ungleichen Türhüter

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Sie kennen die Geschichte vom Türhüter? Dervgroße Dichter hat sie geschrieben, alle Welt hat sie gelesen. Sie erzählt:

Vor dem Gesetz stand ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kam eines Tages ein Mann und bat um Einlaß. Der Türhüter sagte: „Ich kann dir den Einlaß jetzt noch nicht gewähren." — Der Mann war geduldig und wartete. So saß er vor dem Tor — lange Zeit. Wieder und wieder fragte er den Türhüter, ob es denn immer noch nicht gestattet sei, einzutreten, und dieser verweigerte es jedesmal.

Der Mann wurde alt, er gab nicht auf. Nach wie vor stand derselbe Türhüter vor dem Tor, groß, dunkel, in einem langen Pelzmantel, mit einem langen dünnen tar-tarischen Bart. Die Jahre vergingen.

Am Ende war der Mann schon ganz alt, vor Alter und Elend eingeschrumpft. Er wußte, er würde bald sterben. Mit letzter Kraft wandte er sich an den Türhüter, um eine letzte Frage zu stellen: „Wie kommt es, daß in den vielen Jahren an diesem Tor niemand außer mir Einlaß verlangt hat?" Der Türhüter erkannte, daß der Mensch am Ende war. Er antwortete: „An diesem Tor konnte sonst niemand Einlaß finden, denn der Einlaß war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn zu."

So hat der große Dichter die Geschichte vom Türhüter erzählt.

Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Unglücklicherweise hat der Dichter ihr Ende nicht erfahren.

So geht sie weiter:

An der anderen Seite des Hauses war ein zweites Tor. Auch dort wachte ein Mann, auch er galt als Türhüter. Aber dieses Tor stand jedermann offen. Er war ein stiller und geschäftiger Mensch. Wenn sich ein Schritt von weitem näherte, ging er ihm entgegen. „Komm!" sagte er. „Wer du auch bist, kommt mit mir und tritt ein. Drinnen wartet eine gute Botschaft auf dich."

Freilich: die Vorübergehenden waren zumeist in allerlei Geschäften unterwegs. Der eine sagte, er müsse sein Feld pflügen und bestellen, ansonsten würden er und seine Kinder verhungern. Ein anderer sagte, er müsse sein Land verteidigen, ansonsten würden Feinde kommen und es zerstören. Ein dritter sagte, er müsse den Stein der Weisen suchen und bedürfe keiner anderen Botschaft.

Der Türhüter versuchte zu widersprechen. Dem, der sein Feld bestellen wollte, versprach er hinter dem Tor Brot in Fülle; aber der Pflüger hörte nicht hin und ging weiter.

Dem, der den Stein der Weisen finden wollte, gelobte der Türhüter bessere Weisheit und dauerhaftere Wahrheit; der Weisheitssucher lächelte nur geringschätzig und wandte sich ab.

Der Türhüter blieb betrübt zurück. Er öffnete sein Tor noch weiter und steckte Lichter davor an; er holte Sänger aus dem Inneren des Hauses und heuerte Harfenspieler an und ließ sie hinter dem Tor singen und musizieren. Er versah sein Tor mit Bildern, und in jedem einzelnen Bild spiegelte sich die Geschichte der Menschheit, wie ihr Heil geschah und sofern ihr Heil geschehen konnte.

Und es gab viele, die eintraten, und sie bereuten es nicht.

Eines Tages kamen die beiden Türhüter zusammen, der große, strenge in dem dunklen Pelz, mit der hohen Bärenmütze und der andere, der gütige und geduldige Türhüter, der nur noch eine dünne und zerschlissene Kutte trug. Der strenge Türhüter versuchte verächtlich auf ihn herunterzuschauen. „Wie kommst du mir vor?" sagte er. „Niemand fürchtet dich. Schämst du dich eigentlich nicht, j edermann nachzulaufen und einzuladen, damit er eintrete? Merkst du nicht, wie viele Unwürdige Einlaß erhalten? Ich sorge für würdige Auswahl, und die würdigste Auswahl ist, wenn keiner eintritt."

Der gütige und geduldige Türhüter schwieg. Er verteidigte sich nicht, aber er führte den strengen Türhüter vor sein Tor, das Tor, das schön und geschmückt war, und hieß ihn eintreten. Der strenge Türhüter stutzte und sagte: „Ich merke, du willst mich bestechen, indem du mich deine Güte fühlen läßt."

„Nein", sagte der gütige und geduldige Türhüter, „ich will dir nur zeigen, was dein Türhüteramt genützt hat." Er führte den Mann im schwarzen Pelz und mit der riesigen zottigen Bärenmütze in das Haus des Gesetzes hinein. Das Haus des Gesetzes aber war viel größer als es sich der Pelz- und

Bärenmützenträger je hatte träumen lassen. Es war so groß, daß er sich selbst schrumpfen fühlte und klein und kleiner werden, bis er sich selbst so klein empfand wie eine Puppe.

Da sah er, daß sich viele Figuren in den weitläufigen Fluchten des Gesetzes befanden und hier ihr Wesen trieben: die einen bestellten ihre Felder, die anderen saßen als Soldaten wachsam an ihren Grenzen, die dritten suchten nach dem Stein der Weisen und gruben nach ihm. So waren sie alle mit dem beschäftigt, was sie sich vorgenommen hatten; und bei allem, was sie taten, hatten sie die Vorstellung, an ein Tor zu gelangen, das sie zu öffnen hofften. Bei allen ihren Mühen glaubten sie schon die Türflügel zu bewegen, und sogar bei ihren Niederlagen meinten sie, eine Schwelle zu überwinden und über sie hinwegzustürzen.

Der strenge Türhüter war betroffen. „Wie?" schrie er. ,JDu öffnest sogar jenen die Tür, die den Eintritt verschmähen? Du läßt sie hoffen, daß sie ein Tor gefunden haben, obgleich sie dein Tor weder fanden noch finden wollten?"

Der gütige und geduldige Türhüter sagte: „Hätte ich handeln sollen wie du, du Unbarmherziger? - DU SELBST bist ja der Mann, den du vor deiner Tür sterben ließest. Du hast darauf bestanden, das Tor vor dir selbst zu verschließen. Du bist gestorben, um nicht zu erfahren, wie sehr du dich gesehnt hast einzutreten. Denn das Haus des Gesetzes ist innen das Haus der Gnade."

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