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Die große Lüge

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Als unlängst „Paul et Michelle" (zweiter Teil der „Jungen Liebenden") über die Bildschirme lief, begriff ich, um wieviel gefährlicher als Brutalität und stumpfsinniger noch die in Mode geratenen verlogenen Lovestories doch sind. Sie sprechen ein ungleich breiteres Publikum an und befriedigen dessen Kitsch- und Schluchzbedürfnisse. Zugleich wird eine religiös garantiert aseptische Idealwelt als selbstverständlich vorausgesetzt. Als ebenso'selbstverständlich gilt, daß die Folgen sentimentaler Promiskuität abzutreiben sind. Die Embryonenzer-metzelung vollzieht sich sozusagen als Studentenulk, bei dem es darum geht, verständnislose Ärzte hinters Licht zu führen.

Wie ja überhaupt dunkle Mächte, als da sind: Elternhaus, Kirche und Staat (in Gestalt faschistoider Polizisten) die ihren Gefühlen hemmungslos anheimgegebene, bildschöne, paradiesische Jugend-Urhorde daran hindern wollen, in totaler Bindungsund Verantwortungslosigkeit sich selbst zu verwirklichen.

Dante Alighieri, unter den Vätern des Abendlandes nach Vergil der Größte, wußte, daß Selbstverwirklichung Hölle ist und widmete dieser Erkenntnis das erste Drittel seines ungeheuren Epos. Im zweiten Höllenkreis erschaut er - Ursymbole wie alle anderen Gestalten - Paolo und Francesca da Rimini, vom Sturm der Leidenschaft im Kreis getrieben, in einer nie endenden Umarmung sich selbst verwirklichend. Der Dichter aber, zutiefst aufgewühlt, schluchzt nicht wie die Heutigen es täten: „E caddi come corpo morto cade - zu Boden fiel ich wie ein Toter". Mit diesem unvergleichlichen Vers schließt die Episode. Man lese sie nach im Vierten Gesang.

Aber wer, außerhalb Italiens, liest denn schon Dante? Und welcher gut verdieiiende Erfolgsautor kennt seinen Namen?

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