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Digital In Arbeit

Ein Augenblick der Hellsicht

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Es ist mein Beruf, sagte der Archäologe, alte Knochen, Mauerreste, Gerät ans Tageslicht zu befördern. Man braucht in diesem Fach, wie in jedem, Ausdauer, Spürsinn und Glück. Wir sind Handwerker und Träumer in einem. Wären wir keine Handwerker, könnten wir unsere Arbeit nicht verrichten; wären wir keine Träumer, brächten wir es nicht zustande, aufgrund des Fundmaterials die Träume früherer Zeiten zu rekonstruieren.

In meinem Fall kommt etwas Persönliches hinzu. Meine Mutter war ununterbrochen tätig. Ihre ruhige Art, das Notwendige zu tun, hatte sich meinen Brüdern und mir eingeprägt.

Es stellt sich allerdings, fuhr er fort, eines Tages die Frage nach dem Sinn all der Mühen. Der Mensch lebt in der Gegenwart. Wozu braucht er den Rückblick?

Früher war es mir leicht, eine befriedigende Antwort zu finden. Im Bild der Vergangenheit sah sich der Mensch wie in einem besonderen Spiegel. Er wurdein die Lage versetzt, aus den unterschieden und den Parallelen zu lernen. Unsere Funde ergaben, richtig gedeutet, eine Linie menschlicher Entwicklung.

Der Glaube, den ich in den Sinn meines Berufes gesetzt hatte, wurde durch die Ereignisse des Jahrhunderts zerstört. Auch die jüngste Geschichte hat ihre Archäologie. Sie enthebt uns allerdings der Mühe, viele Tonnen Erde und Geröll zu entfernen. Die Massengräber zweier Weltkriege, die Ruinen der Städte, die Vernichtungslager in aller Welt waren ebenfalls Funde. Sie konnten und mußten gedeutet werden. Das Ergebnis stand für mich nach einiger Zeit außer Zweifel. Es gab keine Entwicklung. Wenn es sie gab, war sie bloß als eine Entwicklung der menschlichen Hilfsmittel, nicht als Läuterung der Seele zu deuten.

An diesem Punkt, sagte der Archäologe, war mir die Ausübung meines Berufes zur Pflichtübung geworden. Ich dachte nicht mehr an die Aussagen meiner Funde, sondern allein an die Annehm-

lichkeiten meines Gehalts und meiner zukünftigen Pension.

Die Wende traf mich umso stärker.

Die Ausgrabungen des Sommers wären abgeschlossen, die Aufarbeitung des Materials begann. Die Zahl der zu untersuchenden Objekte ist meistens so groß, daß ihre Beschreibung und Auswertung Jahre dauert. Geduld ist vonnöten. Diesmal wollte sich allerdings die erforderliche innere Ruhe — ja, der liebgewonnene Gleichmut 1- nicht einstellen. Etwas in mir trieb mich an. Was war es?

Tage vergingen im Zustand gesteigerten Eifers; die Nächte kamen dazu. Etwas hatte mich gepackt, zwang mich, die Wochen am Arbeitstisch zu verbringen, es war wie ein Fieberanfall. Der Zustand war derart beglückend, daß er mir den Schlaf nahm.

Das violette Licht der Dämmerung war ins Zimmer gefallen. Alles schien zu schweben. Ich trat ins Freie.

Man kennt diese erste Stunde des Tages: die Frische der Luft und die Stille. Ich wollte mich gemächlich umsehen, um Distanz zu mir selbst zu gewinnen, fühlte aber die Anwesenheit eines anderen Menschen. Nichts rührte sich. Plötzlich erschien mir das Gesicht meiner Mutter, die vor einigen Jahren gestorben war. Ich sah es aus nächster Nähe. Der Anblick verlosch nicht, erzeugte aber eine Ahnung, die Vorform eines Gedankens, der sich — ich wußte selbst nicht, wieso — auf mich bezog. Der Gedanke gewann nun sichere Form. Meine Mutter hatte mich in ihrer wortkargen Art, leise und tätig, geliebt, solange sie gelebt hatte, ohne nach dem Sinn dieser Liebe zu fragen, und ich hatte nichts anderes zu tun als diese Liebe weiterzugeben: den Menschen, die die Ausgrabungen durchführten, und cjen bronzezeitlichen Gegenständen, die auf meinem Tisch lagen und darauf warteten, sich als Erzeugnisse ferner Träume enträtseln zu lassen.

Ich hatte, schloß der Archäologe, nicht den Sinn meiner Wissenschaft begriffen, wohl aber den Sinn meiner Arbeit.

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