Ein vorstädtischer Lebensraum, wie es ihn jetzt nirgendwo mehr in Wien gibt, in dem aber noch vor 70 Jahren Stadt und Land verzahnt waren, und wo in weitläufigen Hinterhöfen grüne Oasen den Stallungen für die Kühe genügend Platz boten, hat das Lebensgefühl von Ernst Waldinger ebenso entscheidend beeinflußt wie das seines Otta-kringer Bezirksgenossen Josef Weinheber. Trotz leidvollem Exil und dem Lebensrhythmus eines anderen Kontinents hielt der Dichter seiner Herkunft die Treue, läuterte er in seinen Dichtungen, diesen „erbitterten Idyllen", seinen Patriotismus so sehr, daß man auch in unseren Schulen des didaktischen Wertes wegen auf dieses Buch nicht verzichten dürfte. In aller Ausge-setzheit hat sich Ernst Waldinger den Glauben an die heilende Kraft der Form bewahrt, denn offensichtlich wurde dieser Glaube aus persönlicher Quelle ebenso gespeist wie aus der europäischen Tradition, verdient also unseren Respekt umso mehr, als Waldingers Überzeugung in den widrigsten Verhältnissen unerschüttert blieb. Er lehnte ab, was heute allenthalben geschieht: „Aus den Waben der Verwirrung schwarzen Honig zu saugen."
Die Erinnerung des Bruders Theodor Waldinger, ein wertvoller Beitrag zur Lokal- und Zeitgeschichte, und die brillant formulierte Analyse von Karl-Markus Gauß stellen die Dichtungen in einen bedeutsamen und würdigen Rahmen.
NOCH VOR DEM JÜNGSTEN GERICHT. AusgewählteGedichte u. Essays. Von Ernst Waldinger. Herausgegeben von Karl-Markus Gauß. Otto Müller Verlag, Salzburg 1990, öS 248,-.