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„Gretchen-Frage“

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Der seelische Haushalt des Bürgers ist in Unordnung geraten. Sein moralisches und psychisches Empfinden im Verhältnis zu seinem Staat, zu seiner Republik, zu seinen Politikern, ist gestört. Im fünften Jahrzehnt seiner Neuexistenz droht unserem Staat der Bürger auf Distanz zu gehen, ihm abhanden zu kommen. Demokratisches Interesse, Agilität und Engagement scheinen nicht nur, sie sind offenkundig im Schwinden. Integrität und Verläßlichkeit der professionellen

Politiker sind, für jedermann ersichtlich, schwerstens angeschlagen.

Allenthalben und mehr und mehr spricht man vom Verfall der politischen Kultur. Kurt Vorho-fer meinte am 5. Jänner dieses Jahres, „was kann da noch verfallen?“ Mohammed Rassem, Salzburger Kulturwissenschaftler, erkennt unzweifelhaft „die Krise unseres politischen Redens“.

Sind solche Aussagen etwa überzogene Analysen, überreizte Polemik oder bloß hingeschriebene Krisenrhetorik? Ich glaube, wir tun gut daran, Diagnosen dieser Art als Warnung und Herausforderung zu begreifen. Die bange Frage hätte man sich überall in Österreich zu stellen, in allen

Bundesländern und in allen Parteien: In welcher moralischen und psychischen Verfassung gehen wir in das Gedenkjahr 1988?

Sie ist schwerwiegender als die berühmte „Gretchen-Frage“. Dazu kommt noch das schon zwei Jahre andauernde „Vorspiel“ zu diesem Gedenkjahr, das schließlich und endlich zur internationalen Kampagne werden konnte. Die Verursacher haben entweder das Verbrechen an unserer nationalen Souveränität und Selbstachtung nicht bedacht oder kühl miteinkalkuliert. Die Betreiber dieser Hätz gegen das Österreich von heute bedenken offensichtlich weder das Unrecht noch die Folgen, vor allem an den und für die jüngeren Generationen dieses Landes.

Nicht die Welt ist es, die uns zum Land der verkappten Nazis und der reuelosen Antisemiten schlechthin stempelt, uns plötzlich ablehnt und verurteilt, sondern Cliquen und Lobbies. Eine einzige Stimme von zahllosen anderen, die sich Blick und Moral nicht trüben lassen, sei apostrophiert. Der israelische Wissenschaftler Shlomo Avineri spricht von einer „rachsüchtigen, schlecht vorbereiteten und Schlagzeilen suchenden Kam-. pagne“.

Hüten wir uns in diesem Gedenkjahr vor der Radikalität eines permanenten Kniefalles. Wer uns einreden will, daß wir Österreicher als typische „Verdrängungskünstler“ in einer spezifisch österreichischen politischen „Vergeßlichkeit“ eine unselige Vergangenheit bloß unter den

Teppich kehren wollen, der mißachtet die innere Reife der überwältigenden Mehrheit unseres Volkes. Dieses Volk hat seit mehr als vierzig Jahren eine aus Tragik und Not verlorene, ihm entrissene Heimat, in einem neuen Geist, mit überzeugtem demokratischem Denken und mit unsäglichen Mühen wiedergefunden und aufgebaut.

Der Autor ist Styria-Generaldirektor. Der Beitrag zitiert auszugsweise einen Vortrag bei der Politischen Matinee des ÖCV am 23. Jänner 1987.

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