An welcher Seite eines Tisches man sitzt, ist meistens egal. Nich- tigkeiten mögen geltend gemacht werden. Hier die bessere Aussicht, hier mehr Störung durch Vorüber- gehende, der weichere Sessel, die Zugluft, die Nähe zum Büffet.
An welcher Seite eines Schreibti- sches man sitzt, ist von existenziel- ler Bedeutung. Die Sprache sogar macht den Unterschied. Man kann vor, man kann hinter dem Schreib- tisch sitzen.
Der hinter dem Schreibtisch Sit- zende hat die volle Deckung. Durch sein Amt und durch seinen Tisch. Ihm stehen alle Einrichtungen des Tisches zur Verfügimg: das Tele- fon, die Laden und das Loch zwi- schen den beiden Ladenkörpern, in das er seinen Unterkörper steckt. Auch verfügt er über sämtliche auf dem Tisch liegenden Gegenstände wie Papier, Bleistifte, Büroklam- mern. Aufgestellte Fotos und vor allem der Kalender sind zu ihm gedreht. Er weiß, der wievielte ist.
Der vor dem Schreibtisch Sitzen- de ist deckungslos. Meist hat er auch den schlechteren Stuhl, vor allem aber kann er Knie und Füße nir- gends verstecken und er kann im Notfall nicht zum Telefon greifen. Weder um vielbeschäftigt angeru- fen zu werden, noch um eine retten- de Sekretärin herbeizuholen. Nicht einmal das Anlümmeln an den Tisch ist ihm gestattet, während des Gesprächs hat er keine Möglich- keit, auf Notizblöcken entkramp- fende Männchen, Kreise oder Ei- senbahnzüge zu zeichnen.
Der vor dem Schreibtisch ist Gast und kann in dieser Rolle zwar vor- übergehend auf den als Gastgeber Fungierenden Terror auszuüben versuchen, befindet sich jedoch in der schwächeren Position. Seine Aufenthaltsdauer ist limitiert, der andere ist hier seßhaft. Dieser ist der potentielle Gönner, der Bosu- cher ist Ansuchender, Anfragen- der, Bittsteller.
In einer symbolischen Darstel- lung, etwa auf einem mittelalterli- chen Grabstein, wäre der hinter dem Schreibtisch Sitzende riesengroß. Der vor dem Tisch wäre ein Winz- ling, obendrein ein knieender.
So kommt er sich auch vor. Drum geht er schleunigst nach Hause, gründet einen Verein und wird Präsident. Als dieser kauft er sich einen Schreibtisch. Jetzt kann er dahinter sitzen.
