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Jenninger-Effekt

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In jener Zeit, als ich noch Korrespondent in Wien war, habe ich Philipp Jenninger persönlich kennengelernt: Er war damals - 1982/83 - noch Kanzleramtsminister und be- gleitete Helmut Kohl bei des- sen erstem Wien-Besuch als Bundeskanzler.

Jenninger war ein treuer Vasall von Helmut Kohl und da dieser sehr nachtragend ist - im Guten wie im Schlechten - hat er alle ihm ergebenen Ge- folgsleute mit Posten belohnt.

Auf diese Weise ist Philipp Jenninger Bundestagspräsi- dent geworden.

Nun hatte aber Bundesprä- sident Richard von Weizsäcker mit seiner berühmten zeitge- schichtlichen Rede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapi- tulation national und interna- tional Furore gemacht. Da wollte Jenninger zum 50. Jah- restag der „Reichskristall- nacht" an geistig-historischer Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit nicht nachste- hen. Aber da zeigte sich eben, daß er für diese Dimension seines Amtes überfordert war.

Leider wissen heute - insbe- sondere im Ausland - viele nicht mehr, was der eigentli- che „Jenninger-Effekt" war. Der damalige Bundestagsprä- sident vertrat nämlich keines- wegs nationalsozialistische oder antisemitische Positionen.

Jenninger wollte damit nicht die Ausschreitungen der Nazis gegen die Juden rechtfertigen, sondern nur erklären, warum sie das schon 1938 tun konnten ohne die nichtjüdische Bevöl- kerung in Deutschland gegen sich aufzubringen.

Das, was man später in der Bundesrepublik den „Jennin- ger-Effekt" genannt hat, war nicht in erster Linie ein inhalt- licher Fehler, sondern vor al- lem eine rhetorische Fehllei- stung. Jenninger konnte quasi die Anführungszeichen nicht deutlich machen. Was er als Denkvorgänge in den Köpfen von 1938 referierte, wirkte auf die Öffentlichkeit nicht als Zitat von Gedanken vor 50 Jahren, sondern als heutige Meinung des Bundestagsprä- sidenten.

Der „Jenninger-Effekt" war auch ein Medien-Effekt, denn das gedankliche Spiel mit dem Rückversetzen in die Ansich- ten von damals mußte überall scheitern, wo Auszüge heraus- geschnitten wurden oder wo Korrespondenten gar nicht über die sprachlichen Feinhei- ten verfügten, zwischen Jen- ningers heutiger Meinung und den zitierten Meinungen zu differenzieren. Es wäre deshalb gewiß ungerecht, Philipp Jen- ninger, der als deutscher Bot- schafterfür Wien im Gespräch ist, in eine nationalsozialisti- sche Ecke stellen zu wollen. Aber auf der anderen Seite weiß man halt auch, wie schwer es ist, international populäre Vor- urteile jemals wieder loszuwer- den, die man einmal durch ei- genes Fehlverhalten selbst her- aufbeschworen nat.

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