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Kindheit, mißverstanden

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Diesmal steht die Literarische Rundschau im Zeichen des Kindes. Sämtliche Rezensionen befassen sich mit Büchern über die verschiedenartigen Fragen der Kindheit.

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Diesmal steht die Literarische Rundschau im Zeichen des Kindes. Sämtliche Rezensionen befassen sich mit Büchern über die verschiedenartigen Fragen der Kindheit.

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Wenn es einen Preis gäbe für das dümmste Buch des Jahres, müßte er dieser sogenannten Kulturgeschichte verliehen werden. Sie will uns (reich bebildert, wunderschön ausgestattet) zeigen, wie die Kinder vom Mittelalter bis zur Gegenwart in Europa gelebt haben, reduziert aber das Leben streng auf soziologische Kategorien. Träume? Verspieltheit? Wirrnisse der Pubertät? Bereitschaft zum Aufruhr? Das alles existiert nicht. Was allein bestimmt, ist die soziologische Gebundenheit; das Sein kommt in diesem Buch ausschließlich als Klassen-Dasein zum Ausdruck.

Beispiele? Über die äußerst komplizierte Problematik von frühen sexuellen und ehelichen Beziehungen ist hier bloß zu erfahren, daß die Aristokratie „aus dynastischen Gründen die Kinderehe förderte“, womit „ihre gnadenlose Vorstellung vom frühen Abschluß der Kindheit“ zum Ausdruck kam. Aber auch die Freiheit der Kinder in der Bürgerstube scheint der Verfasserin - aus schleierhaften Gründen - „durchaus problematisch gewesen zu sein“. Die christliche Weltordnung begünstigte die Kinderarbeit, da sie Müßiggang als Sünde empfand („zumindest für die Armen“), und die Familie widerspiegelte, sofern sie sich nicht nach den veränderten Produktionsverhältnissen richtete, einen „Bewußtseinsrückstand“.

Mit dem Vulgärmaterialismus dieses Buches verglichen wäre selbst der platteste Marxismus eine Weltanschauung von abenteuerlicher Wahrheitsnähe. Einseitig, intolerant, dumm und böse wird hier Kindheit abgehandelt, abgeurteilt, vernichtet. Schauerlich.

DIE KINDHEIT. Von Ingeborg Weber-Kellermann. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1979, öS 499,20.

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