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Märchenwelt eines Einsamen

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Kinderaugen leuchten auch heute noch, wenn man den Namen Andersen nennt. Die Auflagen seiner Märchenbücher gehen in die Millionen Exemplare, wurden in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Berühmte Illustratoren haben die Bände zu bibliophilen Kostbarkeiten gemacht, die heute zu erstaunlichen Preisen gehandelt werden. Lebte Hans Christian Andersen, der — wie alle meinen — liebenswerte Märchenerzähler aus Odense in Dänemark, heute, er wäre vielfacher Millionär, ein bewunderter Künstler, dessen Stoffe wohl vielfach verfilmt und überhaupt für alle Massenmedien aufbereitet würden. Aber im 19. Jahrhundert? „Die Geschichte seines Lebens ist nicht das rosige Märchen, als das er sie gern darstellte“, meint einer seiner Biographen, Elias Bredsdorf, „aber auch nicht so tragisch, wie er sich das bisweilen einzureden trachtete. Hingegen ist es die seltsame und faszinierende Geschichte von einem seltsamen und bemerkenswerten Outsider, dessen Sprache, wie sich zeigte, universeller verständlich war als die jedes anderen Dichters.“

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Kinderaugen leuchten auch heute noch, wenn man den Namen Andersen nennt. Die Auflagen seiner Märchenbücher gehen in die Millionen Exemplare, wurden in mehr als 100 Sprachen übersetzt. Berühmte Illustratoren haben die Bände zu bibliophilen Kostbarkeiten gemacht, die heute zu erstaunlichen Preisen gehandelt werden. Lebte Hans Christian Andersen, der — wie alle meinen — liebenswerte Märchenerzähler aus Odense in Dänemark, heute, er wäre vielfacher Millionär, ein bewunderter Künstler, dessen Stoffe wohl vielfach verfilmt und überhaupt für alle Massenmedien aufbereitet würden. Aber im 19. Jahrhundert? „Die Geschichte seines Lebens ist nicht das rosige Märchen, als das er sie gern darstellte“, meint einer seiner Biographen, Elias Bredsdorf, „aber auch nicht so tragisch, wie er sich das bisweilen einzureden trachtete. Hingegen ist es die seltsame und faszinierende Geschichte von einem seltsamen und bemerkenswerten Outsider, dessen Sprache, wie sich zeigte, universeller verständlich war als die jedes anderen Dichters.“

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Nachdem Georg Brandes, der bekannte dänische Literaturkritiker, dessen 1869 erschienene Analyse über Andersen diesen selbst besonders freute, einige posthum veröffentlichte Briefe des Dichters gelesen hatte, beschrieb er ihn gegenüber dem Dichter Björnsterne Björnson als einen „ganz und gar von sich selbst erfüllten Charakter ohne ein einziges geistiges Interesse“. Ein hartes, dennoch nicht unberechtigtes Urteil, meint Bredsdorf. , Denn Andersen hatte ein unglaubliches Bedürfnis nach Lob, Zuneigung, Verehrung. Ja, seine berühmt gewordene Eitelkeit ging so weit, daß er seine fast kindliche Freude über Anerkennung jeder Art kaum verborgen hielt. In seinen Tagebüchern, Notizen und Briefen wimmelt es von Geschichten von Fremden im Ausland, die ihn, sobald sie ihn, den Dänen, trafen, sofort fragten, ob er vielleicht Hans Christian Andersen persönlich kenne. Und jedesmal berichtete er begeistert über ihre Reaktion, wenn er seine Identität enthüllte.

Dennoch führte er das Leben des Outsiders, eines von Depressionen geschüttelten, der in seiner Eitelkeit sich selbst als allzu häßlich empfand und darunter bitter litt. „Also werde ich mein Leben lang alleinstehen müssen wie eine arme Distel und angespuckt werden, weil es mein Los ist, Dornen zu haben“, schrieb er 1834 an einen Freund. Die Briefstelle zeigt, wie er sich zur Einsamkeit verdammt fühlte.

Diese Einsamkeit ist aber auch der Schlüssel zum Verständnis“' seines Wesens: Der rastlose alte Junggeselle, der es nicht dazu brachte, sein eigenes Heim zu haben, wohnte in Hotelzimmern, in den Gästezimmern reicher Großgrundbesitzer — oder bestenfalls in zwei möblierten Mietzimmern in Kopenhagen. Dabei gibt es zahlreiche Belege und Beweise, wie gern er ein eigenes Heim gehabt hätte, eine Familie, Menschen, zu denen er Kontakt hätte finden können. Und so projizierte er in seine Geschichten immer wieder all seine Sehnsüchte, übrigens mit der gleichen Intensität wie etwa der von seinen Ideen besessene Märchendichter Lewis Carroll! Etwa seine uneingeschränkte Bewunderung für königliche Personen, seine Demut gegenüber Fürsten und Herzogen! Sie hing nicht zuletzt damit zusammen, daß er der Sohn eines Schusters und einer armen Wäscherin war, außerdem geboren im Zeitalter des Absolutismus, in dem Könige als unnahbare, alleinregierende Ubermenschen galten.

In den Augen Andersens waren sie über Kritik erhaben, wobei er stets vorgab, ihre Seelen mehr als ihre Kronen zu bewundern... Die Nachtigall aber spricht mit der Stimme Andersens, wenn sie zum Kaiser von China sagt: „Ich liebe dein Herz mehr als deine Krone ... und doch hat die Krone den Duft von etwas Heiligem an sich.“ Und zugleich äußerte sich Andersen immer wieder ärgerlich über alle seine aristokratischen Gönner, auf deren Gütern er seine Tage verbrachte: „Gräßlich ist es, die Leere der vornehmen Welt zu hören, wie sie entschieden und unbeirrt über alles reden, unwissend, dumm!“ notiert er 1854 in sein Tagebuch nach einem Besuch bei den Moltkes auf dem Herrensitz Glorup. Und noch wütender berichtet er 1867 über eine Gräfin, die ihm von der Verwunderung mancher Leute erzählt, daß er sich zwar „in den Kreisen der höchsten Aristokratie bewege, aber eine Geschichte wie „Der Sohn des Pförtners' geschrieben habe.“

Andersens Lebenslauf ist bunt: 1805 geboren in Odense, 14jährig kommt er nach Kopenhagen, „um berühmt zu werden!“, wird Schüler der Tanz- und Singschule am Königlichen Theater. Die Theaterdirektion bietet ihm die Möglichkeit, sich „Bildung“ zu erwerben, schickt ihn in die Lateinschule. 1829 debütiert er als Autor mit der „Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager“.

1831 tritt der wißbegierige junge Mann seine erste große Reise an, in den Harz und die Sächsiche Schweiz, wo er Chamisso und Tieck kennenlernt. Bande romantischen Denkens werden geknüpft. 1833 tritt er seine große Bildungsreise nach Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien an. Und 1835 gelingt ihm mit dem Roman „Der Improvisator“ der Durchbruch. Ein erstes Heft „Märchen, erzählt für Kinder“ erscheint („Prinzessin auf der Erbse“, „Feuerzeug“ u. a.). 1837 folgt schon der nächste Roman, „Nur ein Geiger“, der das Fundament Ander-senschen Ruhms in Deutschland bildet.

1838 wird ihm bereits ein jährlicher „Dichterlohn“ gewährt. Er geht auf Orientreise, schreibt sein Reisebuch „Eines Dichters Bazar“, reist nach Paris, wo er Balzac, Vater Dumas, Heine, Victor Hugo, Lamartine, Alfred de Vigny kennenlernt. Sein erster Besuch in Weimar, 1844, läßt ihn mit Großherzog Carl Alexander Freundschaft schließen. Neue Bekanntschaften folgen: mit Jacob Grimm, Bettina von Arnim, Robert Schumann, Giacomo Meyerbeer... Eine „Triumphreise“ durch Deutschland und Österreich folgt. 1847 schreibt er als Auftragsarbeit die erste Autobiographie „Das Märchen meines Lebens ohne Dichtung“, anschließend wird er als „berühmter Autor“ durch England, Schottland und Schweden geschleust. 1857 ist er bei Charles Dickens zu Gast.

Reisen durch Spanien, Nordafrika, Holland, Frankreich, Portugal folgen. 1867 wird er zum Ehrenbürger von Odense ernannt und „Etatsrat“. Die Pariser Weltausstellung fasziniert ihn so, daß er gleich zweimal die Reise dorthin antritt. Aber Erschöpfungszustände lähmen allmählich sein Reisefieber. 1872 erscheinen die letzten Märchen, darunter „Der Torschlüssel“ und „Tante Zahnweh“. 1873 wagt er eine letzte

Reise in die Schweiz. 1875, am 4. August, stirbt er an Leberkrebs. Bis zuletzt war er Gast der Familie Mil-chior auf deren Landsitz.

Die, Bilanz seines Lebens und Schaffens -ist •umfangreich: Er unternahm 29 große Reisen, Von denen manche viele Monate dauerten. Außer den Märchen und lyrischen Arbeiten hat er sechs Romane, etliche Reisebücher und eine Menge dramatischer Arbeiten, mitunter von sehr unterschiedlicher Qualität, geschrieben. Der offizielle „Kanon“ umfaßt 156 Märchen und Geschichten.

Man sieht schon: Nur wenige Künstler des 19. Jahrhunderts reisten in Europa so viel wie Andersen. Hypochondrisch, schwächlich, kränklich, mit ewigem Zahnweh, durchfuhr er holpernd [ den ganzen ' Erdteil, aus geringstem Anlaß oft zutiefst erschrocken — er sah überall Räuber — aber doch unablässig zu den größten Strapazen bereit. Er reiste etwa nie ohne langes Seil, mit dem er sich im Falle eines Brandes retten wollte, und er bewegte sich auf Routen, die keineswegs zu den normalen, ja nicht einmal zu denen der exzentrischen Engländer gehörten. Er war furchtsam und furchtlos...

Paradoxie seines Falles: Er war zwar ein genialer reisender Reporter, der mit unglaublicher Präzision, mit außerordentlicher Sicherheit des Blicks schildert. Aber zur Zeitung hatte er zeit seines Lebens kaum Beziehungen. Mit seiner maßlosen Empfindsamkeit dafür, ob andere ihn leiden konnten, ihn anerkannten, mußte er ganz im Gegenteil zur Presse im allgemeinen eine schlechte Beziehung haben. Die leiseste Kritik deprimierte, ärgerte ihn. Er war also so etwas wie ein unfreiwilliger Journalist... Denn seine ersten Leistungen als Journalist wurden von Privatpersonen veröffentlicht, die von ihm Briefe bekamen, sie aber so interessant fanden, daß sie diese an Zeitungen weiterleiteten: Und diese nahmen solche Berichte gern, denn sie waren voll von interessanten „Facts“, kurz und sicher formuliert, farbig.

Übrigens, auch als Zeichner und „Bildausschneider“ war Andersen einzig in seiner Art. Sein Talent zeigte sich da parallel zu seiner schriftstellerischen Entwicklung. Es spiegelt sich schon in den feinen Zeichnungen und Vignetten, mit denen er sein Tagebuch von der Harzreise des Jahres 1831 versah ... Und wenn der Stil Andersens oft malend genannt worden ist, so liegt das an seiner besonderen Art des Sehens, an seinem visuellen Erleben der Natur, der Landschaft, des Raumes und seiner Beleuchtungen. Zweifellos gehört er zu den Dichtern der Weltliteratur, die am stärksten vermocht haben, ihre Erzählweise durch Qualitäten zu bereichern, die man sonst nur in der Malerei kennt. Skizzen und Notizen, die er überall auf seinen Reisen anfertigte, haben so eine bedeutende Rolle in seiner Dichtung gespielt.

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