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Ost-West-Dialog

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„Hier sind wir sicher, hier kann uns keiner belauschen“, sagte der Ostdeutsche zum Westdeutschem

„Sie wollen mir doch hoffentlich keine Geheimnisse anvertrauen? Da ich schließlich in offizieller Eigenschaft herübergekommen bin, wäre mir das gar nicht sehr recht“, sagte der Westdeutsche zum Ostdeutschen.

„Wie man es nimmt“, sagte der Ostdeutsche, „ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich zu den Verfassern des oppositionellen Manifestes gehöre, das jetzt in Westdeutschland kursiert und das unsere Machthaber so erregt.“

„Ogottogottogott, Mann, warum sagen Sie mir das?“ sagte der Westdeutsche.

„Damit Sie im Bilde sind, weil es nämlich im Westen Leute gibt, die wirklich glauben, das Manifest sei gefälscht“, sagte der Ostdeutsche.

,Jetzt will ich Ihnen etwas sagen“, sagte der Westdeutsche, „mit diesem blödsinnigen Manifest haben Sie uns ganz schöne Schwierigkeiten eingebrockt. Damit haben Sie dem friedlichen Zusammenleben unserer beiden Staaten einen Schlag versetzt, den Prozeß der Annäherung empfindlich gestört, den reaktionären Kräften in der Bundesrepublik einen unerhörten Auftrieb verschafft, das von meiner Regierung so mühsam in Gang gebrachte Werk fortschreitender Normalisierung gefährdet, ja wissen Sie denn überhaupt, was das bedeutet, Mann?“

„Sie reden ja schon wie unsere eigenen Leute“, sagte der Ostdeutsche.

„Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung“, sagte der Westdeutsche, „selbstverständlich beobachten wir die Entwicklung in Ihrem Land mit größter Sorgfalt und registrieren mit Freude jeden Hinweis auf das Vorhandensein demokratischer Strömungen, aber Sie müssen doch verstehen, daß eine neue Verhärtung der Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten auch

Ihre Position nicht verbessert, sondern verschlechtert! Und wenn derartige Manifeste anonym in westdeutsche Magazine lanciert werden, kann dies doch nur zu einer Verhärtung unserer zwar noch nicht freundschaftlichen, aber immerhin doch nahezu schon korrekten Beziehungen führen.“

„Im eigenen Land können wir so etwas leider nicht veröffentlichen, und unter unserem eigenen Namen schon gar nicht“, sagte der Ostdeutsche.

„Ein scheußliches Dilemma“, sagte der Westdeutsche.

„Ich sehe natürlich ein, daß wir die so wichtigen korrekten Beziehungen zwisehen unseren beiden Staaten stören, wenn wir unsere Meinung in westdeutschen Zeitungen sagen“, sagte der Ostdeutsche.

„Es ist gut, daß Sie es einsehen“, sagte der Westdeutsche, „es ist ein scheußliches Dilemma.“

„Ich sehe natürlich ein, daß jede Störung der korrekten Beziehungen zwischen unseren Ländern schlecht für das Ansehen Ihrer Regierung ist, die sich um diese Beziehungen so bemüht hat“, sagte der Ostdeutsche.

„Ein scheußliches Dilemma“, sagte der Westdeutsche, „aber wir haben Glück im Unglück. Sicher wollen Sie nicht, daß ich Ihren Namen irgend jemandem verrate?“

„Das ist klar“, sagte der Ostdeutsche zum Westdeutschen.

„Bin ich froh“, sagte der Westdeutsche zum Ostdeutschen, „daß Sie kein Märtyrer sind. Märtyrer zwingen zur Stellungnahme. Wenn Sie ein Märtyrer wären, müßten wir für Sie Stellung nehmen, und dann wäre es aus mit den guten Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten. So aber sind wir alle vernünftige Leute, Sie im Osten sind vernünftig und bleiben brav anonym, und wir im Westen sind vernünftig und lassen durchblicken, daß das Manifest vielleicht doch eine reaktionäre Fälschung ist, und alles renkt sich wieder ein. Aber Sie tun uns natürlich furchtbar leid.“

Selbstverständlich hat in diesen Tagen niemand so gesprochen. Aber so mancher hat so gedacht.

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