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Regie des Lebens

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Die Figur des Hamlet ist voll innerer Logik. Der im Kern seines Wesens, in dem Komplex seiner Wertbegriffe, zutiefst getroffene, ja von Anfang an tödlich verletzte unfreiwillige Held der Affaire redet und handelt ja keineswegs irr und wirr; im Gegenteil: sein Denken ist von schärfster sittlicher Sensibilität, und wenn er nicht tut, was jeder andere täte, dann offenbart sich darin eine äußerste sittliche Konsequenz. „Der Rest ist Schweigen", was sonst? Und wie die Titelfigur, so ist auch das Stück voll innerer Logik — bis auf die Erscheinung des For-tinbras ganz am Ende.

Der kommt rein zufällig, völlig unmotiviert; denn in der vierten Szene des vierten Aktes fungiert er doch bloß als ein Stichwort-bringer, als irgendeines (wie es da wörtlich heißt) von ganz beliebigen Beispielen.

Wie er dann kommt am Ende des Stückes, kommt er als Deus ex machina, und selbst dies nicht als personifizierte Verlegenheitslösung, sondern geradezu unnötig, um nicht zu sagen: störend, da doch Horatio eben verkündet, dies alles mit Wahrheit melden zu können; dies alles, was der Zuschauer miterlebt hat und daher bereits weiß. Der Rest wäre eigentlich Schweigen, doch Fortinbras hat das letzte Wort. Und man ist versucht, mit Jacob Burckhardt zu folgern, was dieser gelegentlich der Tragödie bei den

Griechen feststellt: „Wenn gar der Dichter nur auf diese Weise", mittels des Deus ex machina, „über die verdorbene Situation Herr zu werden vermag, so ist dies nicht mehr Drama, sondern Machtmißbrauch."

Allein, was bei jedem anderen Autor zu tadeln wäre; und selbst wenn die Unverschämtheit, mit der der Dichter den Fortinbras auftreten läßt, aus der Not geboren sein sollte und nicht ein genialer Einfall Shakespeares ist: so wirkt dieser Auftritt des Fortinbras dennoch höchst notwendig, eigentlich sinnvoll.

Denn was hier jeder theatralischen Dramaturgie entbehrt, das ist die Dramaturgie des Lebens selbst. Daß da einer kommt ohne jeden ersichtlichen Grund und die schleifenden Zügel keck in die Hand nimmt, ist die Regie des Lebens. Das hat Shakespeare, auch im „Lear", im „Macbeth", gewußt.

Wie ja auch der Volksmund weiß: Unverhofft kommt oft. Und es kommt, um die irritierte Ordnung wieder herzustellen, und dort, wo alles tot darnieder liegt, eine neue Ordnung zu etablieren, im „Hamlet" ohne weitere Legitimation als die der Pietät vor dem hingesunkenen legitimen Erben. Und also kommt Fortinbras, bei diesem Stand der Dinge, zwar als ein Deus ex machina, aber als einer, der wirklich ein Deus ist.

Und drum haben wir oben von der Erscheinung des Fortinbras, nicht vom Erscheinen desselben gesprochen, nicht bloß vom Auftreten. Denn in der höheren Richtigkeit seines Kommens erscheint er uns als das reale Analogon zu der Eracheinung des toten Vaters von Hamlet.

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