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Selbstmörder sind Kranke

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Täglich sterben auf der ganzen Welt 1000 Menschen durch Selbstmord. Da das Verhältnis der gelungenen Selbstmorde zu den Selbstmordversuchen 1:8 ist, versuchen demnach jeden Tag 8000 Menschen, sich das Leben zu nehmen, geht aus einem Beitrag von Ida Cermak, Oberärztin der Psychologisch-Neurologischen Universitätsklinik Wien, in einem Artikel in der „österreichischen Ärztezeitung“ hervor.

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Täglich sterben auf der ganzen Welt 1000 Menschen durch Selbstmord. Da das Verhältnis der gelungenen Selbstmorde zu den Selbstmordversuchen 1:8 ist, versuchen demnach jeden Tag 8000 Menschen, sich das Leben zu nehmen, geht aus einem Beitrag von Ida Cermak, Oberärztin der Psychologisch-Neurologischen Universitätsklinik Wien, in einem Artikel in der „österreichischen Ärztezeitung“ hervor.

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Der Durchschnitt in der Bundesrepublik Deutschland beträgt 18,9 Suicide pro 100.000 Einwohner. Bei den Großstädten steht West-Berlin mit 35,6 pro 100.000 einsam an der Spitze, gefolgt von München mit 25,1. Das kleine Österreich liegt in der internationalen Statistik mit den skandinavischen Ländern und der DDR in Spitzenposition. 1969 haben in Österreich 1645 Menschen Selbstmord verübt, 1081 Männer, 564 Frauen, davon in Wien allein 391, so daß von 100 Selbstmorden in Österreich 23 auf Wien fallen. Die Selbstmordrate Wiens liegt somit nur wenig höher als es dem Bevölkerungsanteil entspräche, während sonst die Hauptstädte anderer Länder eine weit höhere Suicidrate aufweisen.

Die Selbstmorde betrugen in Wien 1969 insgesamt 1002, davon 399 Männer, 603 Frauen. Hier liegen schon die Ergebnisse für 1970 vor. Insgesamt 955 Selbstmordversuche, 384 Männer, 571 Frauen. Hiebei kamen von 100 Selbstmordversuchen 60 (genau 59,7) auf Frauen, oder umgekehrt gerechnet: auf 100 männliche Selbstmordversuche fallen 149 (148,6) weibliche.

Wenn nun der Selbstmord in der Statistik der Todesursachen bereits in vordere Reihe gerückt ist, heißt es, daß man auf Abhilfe sinnen muß. Dabei geht es ebenso wie sonst auch in der Medizin um rechtzeitiges Erkennen der Gefahr, also geschärfte Diagnostik, Therapie und, wenn möglich, Prophylaxe.

Aber bereits hier stoßen wir auf das erste Paradoxon. Das, was üblicherweise Patient und Arzt zusammenbringt, ist die gemeinsame Bemühung um die zu erreichende Gesundheit.

Anders beim Selbstmordgefährdeten: Selten nur sucht er spontan ärztliche Hilfe und ebenso selten hält er sich nach geglückter ärztlicher Intervention, also nach seiner Rettung, noch für behandlungsbedürftig. Doch haben Untersuchungen ge zeigt, daß zehn Prozent von denen, die einmal einen Selbstmordversuch unternommen haben, im Verlauf der nächsten fünf bis ächt *Jahre durch Selbstmord verstorben sind.

Die Nachuntersuchungen an 788 Geretteten der Wiener Klinik durch Prof. Ringel erwiesen, daß es sich um eine vorübergehende Einengung gehandelt hatte, denn 85 Prozent der Geretteten waren glücklich, am Leben geblieben zu sein, sahen plötzlich eine Fülle von Möglichkeiten, ihr Leben anders zu gestalten, vor sich.

Zehn Prozent faßten die Tatsache, noch am Leben zu sein, als eine Art Gottesurteil auf. Nur fünf Prozent hielten Un der Selbstmordabsicht fest, darunter am häufigsten psychotisch Erkrankte oder Menschen in extrem schwierigen Lebenssituationen, z. B. alte, kranke, vereinsamte Menschen.

Der Selbstmordversuch bedeutet eine ungeheure Entladung des angestauten Aggressionsdruckes; durch die Tat ist der Mensch aus seiner Isolierung herausgetreten und endlich hat sein stummer Hilfeschrei die Umgebung erreicht. Zeigt doch die klinische Erfahrung immer wieder, daß der Selbstmordversuch nicht einem angeborenen Todestrieb entspringt, sondern ein letzter Versuch der Kommunikation, ein letzter Ruf nach Hilfe und Verständnis ist. Psychodynamisch gesehen ist es der Versuch der Lösung anders nicht lösbar scheinender innerer und äußerer Konflikte.

Die Selbstmordhandlungen in Wien zeigen, nach Altersgruppen auf geteilt, daß von den Selbstmordhandlungen der Fünfzehn- bis Dreißigjährigen 11,4 Prozent tödlich ausgehen, jedoch die der mehr als Sechzigjährigen zu 50,8 Prozent tödlich enden.

Von den 391, denen der Selbstmord (1969) gelungen war, waren 55,7 Prozent ledig, geschieden und verwitwet. 44,2 Prozent waren verheiratet, während von der Wohnbevölkerung Wiens 1969 zirka 51,6 Prozent verheiratet waren. In anderen Worten.- Vereinsamung und Alter erhöhen die Selbstmordgefahr.

Was konnte bisher getan werden und was bleibt noch zu tun?

1. Die Einrichtung einer zentralen Entgiftungsstation hat sich bewährt. Es steht dadurch nicht nur bei allen Notsituattonen und den verschiedenen Vergiftungsarten ein kompetentes Ärzteteam einschließlich der Intensivstation zur Verfügung.

2. Der Telephonnotdienst in Wien hat sich bewährt. Er macht mit 50 freiwilligen und nur einem hauptamtlichen Helfer permanenten Dienst und wird von der evangelischen und katholischen Kirche gemeinsam subventioniert. Im Jahre 1969 wurden immerhin 5326 Fälle behandelt. Direkt wegen Selbstmordgedanken haben nur 39 Menschen angerufen, doch waren sicherlich viele der anderen Kontaktaufnahmen als Suicid- prophylaxe zu werten. Die Anonymität und die permanente Möglichkeit, also auch in der Nacht, einen Gesprächspartner zu finden, erleichtern den ersten Kontakt. 3. Die Wiener Leb ensmüdenfürsorge der Caritas beschäftigt vier Fürsorgerinnen, von denen eine den Kontakt unmittelbar am Krankenbett aufnimmt. Ärztliche Sprechstunden werden dort abgehalten.

4. Eine internationale Vereinigung zur Selbstmordverhütung, die IASP, wurde gegründet, die den Erfahrungsaustausch ermöglicht. Zu fördern wäre eine besondere Aufklärung der Bevölkerung durch die Massenmedien: der Selbstmord solle als Krankheit anerkannt werden (was übrigens die katholische Kirche voll getan hat: es gibt bezüglich des kirchlichen Begräbnisses keinerlei Schwierigkeiten mehr), die Risikozeichen müßten bekannt und auf die bereits eingerichteten Institutionen sollte aufmerksam gemacht werden.

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