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Tanten schlachten

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Am elterlichen Abendtisch ereiferten sich Gäste gegen .jenen entsetzlichen Wedekind". Mit der provokanten Arroganz, deren man nur als Fünfzehnjähriger fähig ist, warf ich ein: „Aber die beiden Lulu-Dramen sind Meisterwerke."

Nach einer Pause des Entsetzens fragte jemand lauernd: „Du hast das doch nicht etwa gelesen?" - „Doch, zweimal", sagte ich und legte damit das Fundament meines Rufs als Anarcho-monarchist.

Inzwischen ist Frank Wedekind zum Klassiker geworden, und seine Bänkellieder sang in FS 2 Helmut Lohner. Lohner ist unübertrefflich, wenn er von innerlicher Wut zerfressene, weil an schwerem Jakobinismus erkrankte Typen verkörpern kann.

Die Aussage des jugendlichen Tantenschlächters, der seine Richter unter Anklage stellt, gab dem Vortragsabend lediglich den Titel. Das beste Bänkel-lied bleibt nach wie vor jedoch die in gereimtem Amtsdeutsch verfaßte große Ballade von der „Brigitte B.", die wir als. Gymnasiasten hinter dem Rückender Professoren in der Pause einander vorlasen, bei jeder Pointe lauthals johlend.

Viel später erst begriff ich, wieviel Entsetzen und wohl auch Grausamkeit sich hinter Wedekinds Hohngelächter verbarg. Und noch viel später lernte ich die Großzügigkeit der Zeit vor 1918 bewundern. Was durften doch ein Wedekind im wilhelminischen Deutschland und ein Karl Kraus im kaiserlichen Wien ungescheut öffentlich hinausschreien!

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Pressefreiheit offiziell hereinbrach, lernte ich die demokratische Zensur kennen, deren Wirksamkeit in Ubereinkünften besteht, und deren verfeinerte Totschweigetechnik den lückenhaften Metternichschen Verbotskatalog in den Schatten stellt.

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