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Vom Genius loci mild umfächelt

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Der Bildungstourismus benützt es gern, das wohlklingende Wort Genius loci. Ein kleiner Schatz an lateinischen Vokabeln erhebt einen Menschen in den geistigen Adelsstand der humanistisch Gebildeten — dieser bedenklichen Meinung kann man noch immer begegnen.

Gibt es den Genius loci wirklich? Wenn wir andächtig Ruinenfelder durchwandern, uns zwisehen Tempeltrümmern, einst Göttern geweiht, deren Mythen wir kennen, bewegen, wenn angesichts einer lateinischen Inschrift Erinnerungen an ferne Schulstunden in uns auftauchen und wir mit Rührung ein wiedererstandenes Partizip in uns begrüßen, dann fühlen wir uns köstlich gestreichelt und erregt. Die Phantasie vermischt Wahrnehmungen mit Wissensbruchstücken, und wir glauben, der Genius loci umfächle uns. Bildung und Einbildung umarmen einander.

Wenn uns etwas ganz fremd ist, kann sich dieses Gefühl nicht einstellen. Der Ort muß in unserer inneren Welt schon einmal anwesend gewesen sein, sonst teilt sich der Genius uns nicht mit. Also ist der Genius loci nur eine schöngeistige Vorstellung?

Wenn wir wissen, weil wir es im Reiseführer gelesen haben: hier wandelte Sokrates mit seinen Freunden, dann wird es uns nicht schwerfallen, das zu fühlen, obwohl sich der Ort inzwischen sehr verändert hat. Wenn uns gesagt wird: in dieser Laube pflegte Schubert zu komponieren, wird sich sofort feierliche Rührung bei uns einstellen.

Wenn es uns aber nicht gesagt wird? Dann werden wir von so-kratischen Dialogen vermutlich nichts empfinden und nicht einmal von Schubert, der uns doch so nahe ist, dessen Musik wir zum Teü mit eigenen Händen auf dem Klavier erklingen lassen können. Gibt es nun einen Genius loci?

Ist er das, was der Gebildete zu fühlen vermeint, wenn er diesen wohlbekannten Gesichtsausdruck annimmt: bei schräg angehobenem Gesicht den Blick nach rechts oben und die Lippen schmal aufeinander gedrückt, wodurch die Nasenspitze spitzer wird? Häufig dann noch die Hände in glücklicher Selbstgefälligkeit an den Leib gelegt, und gleich wird ein Zitat ertönen? Oder eine grammatikalische Erinnerung — quercus, quercus, femininum? Hat man es bei diesem physiogno-mischen Phänomen mit einer Emanation des Genius loci zu tun?

Am östlichen Rand des Horner Beckens liegt Sachsendorf, benannt nach Ulrich von Sachsen, Burgherr und Minnesänger. Archäologen fanden heuer im Frühling bei ihrer Arbeit an der Burganlage - sie wurde 1481 zerstört — viele Gräber neugeborener Kinder. Denn hier, an dem einstens heiligen Ort, wurden die kleinen, ungetauft Verstorbenen, denen die Kirche die geweihte Erde des Friedhofs verweigerte, bestattet.

Das geschah bis ins 19. Jahrhundert, nachdem die Kapelle seit Jahrhunderten verschwunden und ihre Mauerreste ins Erdreich gesunken und überwachsen waren. Aber was einmal geweiht war, wird wohl für immer ein bißchen geweiht bleiben. Daran glaubten die Mütter, die ihre Kinder hier zur Ruhe betteten. Sie glaubten an den Genius loci, an den Schutzgeist dieses Ortes, und vertrauten die Kleinen seiner Obhut an. Somit ist wohl durch die Archäologen ein Nachweis seiner Existenz erbracht.

Sachsendorf ist kein Einzelfall. Häufig finden sich Gräber im Bereich einst geweihter Stätten. Mauern zerfallen, werden zerstört, der Genius bleibt, als Schutzengel der Ausgeschlossenen.

Für schöngeistige Spaziergänger ist er nicht zuständig.

Wenn wir nichts wissen von archäologischen Grabungen und ihren Befunden, und wir wandern durch dieses anspruchslose und gar nicht arkadische Bauernland, ob wir dann, falls uns nichts ablenkt, etwas ahnen von seiner reichen Geschichte und die Seelen der unschuldigen Kinder spüren?

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