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Wer hört die Signale der Verzweifelten?

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Die Verweigerung eines kirchlichen Begräbnisses für Selbstmörder war lange Zeit hindurch eine pauschale Verurteilung vieler unglücklicher Menschen und deren Angehörigen. Die heute stillschweigend geänderte Bestattungspraxis geht wohl auf die Erkenntnis zurück, daß gar keine freie Willensentscheidung vorlag, sondern daß dieser Mensch unter schwerem psychischen Druck gehandelt hat. Sein Ziel war weder Mord noch Tod, und es lag auch keine bewußte Handlung gegen den Schöpfer Gott vor; es war vielmehr die Befreiung von einem unerträglich gewordenen Leiden.

Wenn sich auch die Praxis gemildert hat, die Distanz zu diesen Unglücklichen ist geblieben. Die ablehnende Haltung der Gesellschaft, schreibt der Pastoralpsychologe Klaus-Peter Jörns, beruht darauf, daß die meisten Menschen gar nichts von den Verzweifelten wissen und nicht mit deren Leiden konfrontiert werden wollen.

Mit 1860 Selbstmorden wurde 1978 in Österreich die Zahl der Verkehrstoten - 1650 -r bereits um 200 überschritten, wobei die Versuche, sich das Leben zu nehmen, auf das Zehnfache geschätzt werden. Ärzte, Seelsorger und Soziologen haben sich eingehend mit dem Problem der Selbsttötung beschäftigt

Entscheidend sind die Fragen nach den Hintergründen der Absicht. Die Wurzeln reichen meistens bis in die Kindheit. Eltern und Lehrer sind zudem beunruhigt über die heute so stark zunehmenden Kinder-"und Jugendselbsttötungen.

Professor Erwin Ringel machte in einem Radiovertrag klar, daß sie allein auf das Schuldkonto der Eltern gehen. Sie sind es, die ihre Kinder zu Versagern machen. Sie drücken sich um Gespräche, um Aussprachen im Vertrauen. Wer Liebe und Freundlichkeit nur als Gegenleistung für Ordnunghalten oder Fleiß kennenge- lemt hat, der wird sie selbst für etwas halten, das bezahlt werden muß.

Andererseits neigen viele Eltern dazu, ihren Kindern alle Widerstände aus dem Weg zu räumen, auch darin liegt eine große Gefahr, denn Widerstände wecken Lebenskräfte, und die Leidensfähigkeit muß schon in jungen Jahren entwickelt werden. Einé Häufung von Mißerfolgen löst später schwere Krisenerscheinungen aus. Dagegen kommt einer gut funktionierenden Familie große Bedeutung zu. Wer ohne Hemmnisse ein ge-

meinschaftliches Leben erlernt hat, besitzt die besten Abwehrkräfte in den Momenten der Verzweiflung.

Entscheidend in jedem Lebensaiterist die Zuneigung zueinander, sagt Klaus-Peter Jörns. Die wachsende Zahl der Selbstmorde zeigt ein fortschreitendes Scheitern der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wieviele geraten nicht durch Lebensumstände, etwa durch Partnerverlust bei Scheidung oder Tod, durch Arbeitslosigkeit, Pensionierung und Depressionen, bedingt durch die Wechseljahre, in eine Isolation.

Die Verzweifelten senden Signale, daß sie nicht mehr weiter können.

Wer horcht auf, wer nimmt sie ernst? Der „von Gott und der Welt Verlassene“ schlittert in Todeszustände und findet keinen Ausweg mehr. Allein gelassen, kann er keine Zuversicht ■aufbauen. Von selbst hellt keiner seine Züge auf, dazu bedarf es immer anderer. Am Leben aber erhalten uns nur Menschen, die zu uns halten und solche, zu denen wir halten können.

Meistens sind es die einfachen Dinge des Tages, wie Briefe schreiben oder Telefonate, die Botschaften sein können, die sagen: „Ich lebe mit dir und bleibe dir verbunden.“ Der Großstadtmensch krankt am Termindruck. Zeit nehmen und Zeit haben, das ist Humus, auf dem Lebensbeziehungen und Gemeinschaft wachsen können.

Wenn wir Jesus in den Evangelien verfolgen, so führen seine Wege meist zu Menschen, die an den Rand des Lebens gedrängt wurden. Er stellt für sie die Lebensbeziehungen zu Gott und zu den Menschen wieder her. Heilungen nimmt er an jenen vor, die ihre Krankheit am Leben mit den anderen hindert. Er verkündet, daß •Gott niemanden in Isolierung haben möchte. Er setzt sich mit den Verachteten an einen Tisch und holt sie aus der Beziehungslosigkeit heraus.

Wer einen Selbstmord ernstlich verhindern will, der muß sich selbst voll einbringen. Paulus sagt: „Einer trage des anderen Last.“ Es muß einer da sein, der mit dem Unglücklichen das Leid tragen will, nur so läßt es sich überwinden.

KLAVS-PETER JÖRNS. Nicht leben und nicht sterben können. Sehen, verstehen, helfen. Verlag Herder, 1979, 156 Seiten, öS 1J8 —

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