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Wieder satt geworden

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Sind Sie satt? Sind Sie heute wieder einmal satt geworden? Ohne darüber nachzudenken, daß Sie satt geworden sind?

Legen Sie Fasttage ein? Der Linie oder der Gesundheit zuliebe? Einen Reisetag, einen Safttag, einen Obsttag?

Auf einem großen Bahnhof.

Der alte Mann fällt auf, weil er so auffällig versucht, nicht aufzufallen. Er hat schöne weiße Haare. Wenn er sich beobachtet fühlt, bleibt er stehen, lehnt Stock und Aktentasche an einen Kiosk, greift mit beiden Händen in sein dichtes Haar, stellt den Mantelkragen hoch.

Wie alt ist er? Siebzig bestimmt. Drüber, eher drüber.

Es ist vormittags elf Uhr. Viel Betrieb. Einfahrende und abfahrende Züge, Stimmen, die die Züge ansagen, die Verbindungen.

Der Mann geht von Papierkorb zu Papierkorb. Man sieht, daß er Übung hat. An manchen geht er nach einem Blick vorbei. An manchen bleibt er länger stehen, zieht eine abgebissene Schinkensemmel heraus, ein unangebissenes Käsebrot, klappt seine Aktentasche auf, legt beides schnell hinein, sieht sich um. Er greift noch einmal in den Papierkorb, zieht eine fast unzerknüllte weiße Papiertüte heraus, nimmt Semmel und Brot wieder aus der Tasche, steckt beides in die Tüte und die Tüte in die Tasche. Im nächsten Papierkorb findet er eine Dose Coca Cola. Er schüttelt sie. Anscheinend ist zuwenig drin, um sie mitzunehmen. Also trinkt er sie aus. Im nächsten Papierkorb findet er eine schwärzliche Banane, einen angebissenen Apfel und eine ungeschälte Orange. Er steckt alles ein. Er ist sehr sorgfältig. Immer wenn er etwas gefunden und verstaut hat, zieht er ein Taschentuch aus der Manteltasche und reibt sich die Hände ab. Auch ein paar Zeitungen steckt er in seine Aktentasche. Bei einer stutzt er, streicht sie glatt und steckt sie in die Manteltasche. Vielleicht ist sie von gestern oder gar von heute. Die kann er lesen. Dann weiß er doch, was los ist in der Welt.

Um ihn herum sind Menschen, die es eilig haben und Menschen, die Zeit haben. Sie essen Würstel und Brezeln, Schinkensemmeln und Bananen und trinken Bier oder Cola.

Im letzten Papierkorb findet er eine Semmel und eine halbe Brezel. Er steckt sie ein und geht.

Für den Vormittag hat er genug. Und wenn er am Abend wieder essen will, braucht er nur wiederzukommen.

Wir können alle ruhig schlafen. Bei uns braucht keiner zu hungern. Die Wohlstandsgesellschaft ernährt ihren Mann.

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