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Neue Verbindlichkeit

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Religion ist nicht - wie wir seit der Aufklärung meinen - ein spezifisches „Teilsystem” für Bedürfnisse, die mit Sinn, Jenseits, Transzendenz et cetera zu tun haben, sondern die Leben und Tod bestimmende Bindung des Menschen, die sich Ausdruck verschafft in Riten, Institutionen und (heiligen) Texten. Innerhalb der von Religion bestimmten Lebensbedingungen haben Konflikte einen keineswegs zentralen Stellenwert. Sie gelten als Störung vorgegebener Harmonie, über die dafür Zuständige wachen. Frieden, Einheit, „Glückseligkeit”, Ewigkeit, das gute Leben sind erstrebenswert.

Mit der Moderne tritt an die Stelle der „religio” die Freiheit, wie schon Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen” zeigt. Damit zerfallen die verbindlichen Formen der Riten und Institutionen, die Gedanken sind frei. Kunst, Mode, Staat und Gesellschaft, Moral und Ideologien in den Medien - angefangen mit dem Buchdruck - treten auf. Die fehlende Einheit wird mit dem Wort „Kultur” verdeckt. Der Konflikt ist die Bedingung der Freiheit, wie schon Niccolo Machiavelli bemerkte.

An die Stelle der Sorge um Harmonie im Inneren — begleitet von Außenkonflikten der Kirche - tritt der Konflikt als grundlegende Atmosphäre. Bestimmend werden Konfliktregelungsverfahren. Setzung und Erhaltung der Rechtsordnung stehen auf der Tagesordnung. Darin wirkt der Gedanke der Selbstbestimmung als nationale Souveränität, als Revolution, als Lebenskonzept. Letzteres reicht von bloßer „Selbstverwirklichung” bis hin zum Dandy-tum, zur ästhetischen Existenz, zum Single, schließlich zum Selbstmord. In diesem Gedanken wirkt ein Anspruch mit, der durch die Forderung der Gerechtigkeit nicht gedeckt ist -das „Selbst”. Mit der schrittweisen Ausdehnung des Selbstbestimmungskonzeptes nimmt die Bereitschaft und Notwendigkeit, das Leben aufs Spiel zu setzen - „soziale Entropie” - zu. Der Tod führt Regie, wie an Totalita -rismus, Terrorismus, Sterbehilfe und Euthanasie zu beobachten ist. Daher ist vom „Nullpunkt des Todes” (Hermann Broch) her das Verbindliche neu zu denken. Der Autor ist

Philosoph und Schriftsteller.

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