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Nastja Petrenko kann den Krieg nicht vergessen. Das ferne Donnern der Artillerie und das dumpfe Rattern der Kalaschnikows gehen ihr nicht aus dem Kopf. Über drei Monate wurde ihre Heimatstadt Slowjansk von Separatisten besetzt und von der Armee belagert. Wochenlang hatte sich Petrenko mit ihrer Mutter im Keller eines Plattenbaus versteckt. Fast jeden Tag hörte sie Schüsse von der Straße. "Irgendwann konnte ich das Kaliber der Maschinengewehre unterscheiden", sagt Petrenko.

Anfang Juli flohen die Aufständischen, doch der Bürgerkrieg hinterließ seine Spuren: In einigen Straßen liegen Minen, Einwohner berichten von Massengräbern, es gibt weder Wasser noch Strom. Die 51-jährige Nastja Petrenko nimmt jeden Vormittag ihre zwei Plastikkübel und wartet am Leninplatz auf frisches Wasser.

Im Mai schickt Nastja Petrenko ihre Kinder zu Verwandten nach Odessa, sie selbst harrt mit ihrer 82-jährigen Mutter in Slowjansk aus, "weil wir die Wohnung nicht alleine lassen wollten". Mehrmals schlagen Granaten in Wohnhäuser ein. Trotz der Gefahr wagt sich Petrenko manchmal auf die Straße, um Wasser zu holen, Brot zu kaufen oder Geld aufs Handy zu laden. "Man wusste nicht, ob man wieder zurückkommen würde.

Hoffnung auf Milizen

Nastja Petrenko deutet auf ein ausgebranntes Backsteinhaus in der Nähe des Leninplatzes. Separatisten hatten den zweigeschossigen Bau besetzt, weil sich unter dem Gebäude der einzige intakte Brunnen der Stadt befand. Als die Armee davon erfuhr, bombardierte sie das Haus. Bei dem Angriff starben nicht nur die Rebellen, sondern auch ein fünfjähriges Mädchen. "Vorsicht Minen", warnt hier noch eine Schrift an der verkohlten Fassade. In den Trümmern können Sprengsätze liegen, die beim Einschlag nicht detonierten.

Nastja Petrenko lebt seit ihrer Kindheit in Slowjansk. Zu Sowjetzeiten war die Industriestadt bekannt für ihre Keramikwerke. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine gingen die Betriebe zu Grunde, die Stadt versank in Armut. "Die meisten Leute wünschten sich die Sowjetunion zurück", sagt Petrenko.

Für die Maidan-Regierung in Kiew und den Westen hatte kaum jemand etwas übrig. Deshalb bejubeln viele Bürger die Separatisten, als diese im April in Slowjansk auftauchen. Auch Nastja Petrenko begrüßt die Aufständischen. Im Mai organisieren die Milizen ein Referendum, Petrenko stimmt für die "Volksrepublik Donjezk"."Unser Leben würde dann besser werden", dachte .

Inzwischen haben die Separatisten ihr wahres Gesicht gezeigt. Die Anzeichen verdichten sich, dass prorussische Milizen den Passagierflieger der Malaysian Airlines mit 298 Menschen an Board abgeschossen haben. Vermutlich verwechselten die Rebellen die Boeing 777 mit einem ukrainischen Militärflugzeug.

Auf die internationale Empörung reagieren die Separatisten zynisch: Die Passagiere an Bord der Maschine seien bereits tot gewesen, behauptet der Milizenführer Igor Girkin. In Wahrheit habe der US-Geheimdienst das Flugzeug abgeschossen.

Auch in Slowjansk terrorisierten die Separatisten die Einwohner. "Banden zogen marodierend durch die Straßen, plünderten Geschäfte und raubten Autos", erzählt Petrenko. Die Anarchie war sogar Milizenkommandant Igor Girkin zu viel. Der Russe mit dem Spitznamen "Schütze" habe fünf Marodeure wegen Disziplinlosigkeit erschießen lassen, berichten ukrainische Zeitungen. Nastja Petrenko war schließlich erleichtert, als die Armee Anfang Juli in die Stadt einrückte.

Heute scheint auf den ersten Blick alles in Ordnung in Slowjansk, die meisten Häuser jedenfalls blieben von den Kämpfen verschont. Einige Häuserfassaden zeigen Einschusslöcher, große Holzplatten ersetzen die zersplitterten Fenster.

Doch der Tod kann hinter jeder Straßenecke lauern. Zum Beispiel in der Uridskastraße, wo eine Kinderklinik steht. Separatisten hielten das Krankenhaus besetzt, eine Granate riss ein meterbreites Loch in die Fassade. Hinter dem Krankenhaus, erzählen Einwohner, hätten Separatisten ein Massengrab ausgehoben. "Sie haben stundenlang gegraben und dort rund zwanzig Leichen verscharrt", sagt Nastja Petrenko. Vermutlich haben die Separatisten dort ihre Kämpfer begraben, weil es keinen Strom gab und die Kühlung des Leichenschauhauses nicht mehr funktionierte. Die Armee warnt Einwohner davor, sich der Stelle zu nähern. In den Gebüschen sollen Tretminen und Sprengsätze mit Drahtauslöser liegen.

Der Krieg ist vorüber, dennoch schottet die Armee Slowjansk weiterhin ab. Auf der Schnellstraße Richtung Charkow hat das Militär fünf Kontrollposten errichtet. Mit Kalaschnikows bewaffnete Soldaten kontrollieren dort Pässe und durchsuchen Kofferräume nach Waffen. So will Kiew verhindern, dass nochmals Separatisten in Slowjansk einsickern.

Ringen um die Gunst der Bürger

Nicht alle Separatisten seien geflohen, vermutet das Militär, einige hätten sich einfach unter die Leute gemischt. Deshalb versucht die Armee, die Bürger für sich zu gewinnen. Vor dem Rathaus hat die neue Stadtregierung eine Wandzeitung aufgestellt. "Wer Separatismus unterstützt, macht sich strafbar", steht darauf geschrieben. Im Rathaus teilen Polizisten Brot, Reis und Konserven für die Menschen aus.

Russische Popmusik schallt aus Lautsprechern über den weiten Leninplatz. An den Straßenlaternen hängen Steckdosen mit angestöpselten Handys und Laptops, weil es in den Häusern noch immer keinen Strom gibt. Dann fährt ein Jeep des Katastrophendienstes über den Betonplatz.

Wer sich duschen wolle, verkündet eine Stimme aus dem Megafon, könne um 13 Uhr ins Rathaus kommen. Endlich rollt der Tanklaster mit dem ersehnten Trinkwasser auf dem Leninplatz ein. Nastja Petrenko stellt sich in die Schlange zu den anderen Rentnern, Müttern und Kindern.

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