Im Anfang war das Wort - oder sollte ich besser sagen: der Code? Seit einer Woche ist das menschliche Genom, also die Gesamtheit der im Zellkern gespeicherten Erbinformationen, komplett entschlüsselt. Die alte Metapher vom Buch der Natur bekommt einen neuen Sinn. Leben heißt Lesen, und wer zu lesen versteht, kann möglicherweise das Leben selbst neu schreiben. "So ist es", heißt es im himmlischen Prolog, mit dem Harry Mulischs Roman "Die Entdeckung des Himmels" beginnt. "Sie haben unser ausgefuchstestes Konzept entschlüsselt, nämlich dass Leben letztendlich Lesen heißt. Sie selber sind das Buch der Bücher."
Der Mensch - das Buch der Bücher? Tritt der genetische Code im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, der "Lebenswissenschaften", an die Stelle der Bibel? Wenn man die hochfliegenden Visionen mancher Genetiker von einer schönen neuen Biowelt wie auch die apokalyptischen Horrorgemälde mancher Kritiker des biomedizinischen Fortschritts betrachtet, spürt man religiösen Eifer auf beiden Seiten.
Wir sollten die Möglichkeiten der Gentechnik im Guten wie im Schlechten ernst nehmen, aber nicht überschätzen. Das Biologiebuch des Lebens bietet viel Text, aber nur wenig Sinn (Jens Reich). Die Idee des Menschen nach Maß bleibt schon aus wissenschaftlich-technischen Gründen eine unrealisierbare Utopie, weil das Zusammenspiel der Erbinformationen überkomplex ist.
Das ändert freilich nichts daran, dass uns Menschen mit dem neuen Informationszuwachs eine neue moralische Verantwortung zufällt. Wer den Text des Buches der Natur fortschreiben will, muß bedenken, dass sein Sinn nicht schon in den Genen zu finden ist. Wir brauchen geistige Orientierung.
Das alte Buch der Bücher bleibt ein wichtiger hermeneutischer Schlüssel, um Sinn und Bedeutung des Textes, der wir selber sind, zu verstehen.
Ulrich H. J. Körtner ist Professor für Systematische Theologie H.B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.