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Religion im Industrierevier

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Die komplexen sozialen Verhältnisse unserer Zeit treten vor allem in denjenigen Gebieten recht deutlich hervor, die auf eine lange industrielle Tradition hinweisen können. So ist es beispielsweise auch im südöstlichen Niederösterreich, im Raum der von der Schwarza gebildeten „Gloggnitzer Bucht“. Dort dehnt sich zwischen Rax und Schneeberg im Westen, dem Semmeringgebiet im Süden, dem Rand der Buckligen Welt im Olsten sowie dem Steinfeld im Norden eine bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert bestehende Industriezone aus. Die Fabriken scharen sich hauptsächlich einerseits um die Städte Neunkirchen und Ternitz, anderseits um die Stadt Gloggnitz. Von den rund 40.300 Menschen, die auf diesem Areal leben, wohnt allein die Hälfte in Neunkirchen und Ternitz.

Kirchliche Sozialforschung

Wir interessieren uns deswegen für dieses wichtige niederösterreichische Industrierevier, weil vor einiger Zeit das Institut für kirchliche Sozialforschung in diesem Raum umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchführte. Es sollte vor allem Grundmaterial über soziale und religiöse Gegebenheiten zusammengestellt werden, um den Seelsorgern die Aufgabe zu erleichtern. Die konfessionelle Struktur entwickelte sich dort gerade in der letzten Zeit nicht so, wie es die katholische Kirche gern gesehen hätte. Während in Österreich rund 89 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, so sank dieser Anteil jedoch zwischen Neunkirchen und Gloggnitz auf 85 Prozent ab. Diese unterdurchschnittliche Situation wird durch die vorhandene Gruppe der Konfessionslosen (sieben Prozent) stark beeinflußt. Besonders in Ternitz schnellte seit 1951 der Anteil der Konfessionslosen von 9 auf 14 Prozent hinauf. Es muß aber erwähnt werden, daß sich dort die Frauen mehr als die Männer zum Katholizismus bekennen.

Leben mit der Industrie

Die kirchlichen Sozialforscher standen also zuerst vor der Frage, welche Faktoren die gegebenen Verhältnisse eigentlich geschaffen haben. Der politische Bezirk Neunkirchen, um den es sich hier teilweise handelt, gehört zu den niederösterreichischen Gebieten, die eine sehr hohe industriell-gewerbliche Dichte notieren. Bloß in den kleineren Dörfern wird Landwirtschaft betrieben, und das vielfach nur mehr lm Nebenerwerb. Die lokale wirtschaftliche Konzentration stützt sich auf die Eisenindustrie von Ternitz und Neunkirchen, auf die chemische Industrie von Wimpassing, auf die Papierindustrie von Gloggnitz, aber auch auf die Textilindustrie von Gloggnitz und Rohrbach. Dominierend sind jedenfalls die Großbetriebe, denn fast drei Viertel der industriellen Berufstätigen arbeiten in Unternehmen mit mehr als 100 Erwerbstätigen. An der Spitze steht die Stahlbauflrma Schoeller- Bleckmann in Ternitz mit rund 4000 Beschäftigten, gefolgt von den Semperit-Gummiwerken in Wimpassing (3500 Beschäftigte) sowie vom Schrauben- und Schmiedewarenbetrieb Brevillier-Urban in Neunkirchen. Die Bezirksstadt Neunkirchen bewältiget aber auch Verwaltungs- aufgaben, und sie nimmt deshalb zusätzlich eine einflußreiche zentrale Position ein.

Von den Berufstätigen des erforschten Gebietes arbeiten ungefähr 75 Prozent in der Industrie und im Gewerbe, 11 Prozent zählen zur Wirtschaftsgruppe von Handel und Verkehr, und nur 7 Prozent sind in der Landwirtschaft tätig. Zwischen den untersuchten 24 Gemeinden besteht immerhin eine rege Arbeitspendelwanderung, aber angesichts der günstigen Verkehrsbedingungen und der relativ geringen Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsplatz kann man hier bestimmt nicht von einer unerwünschten Fernpendelwanderung sprechen. Hingegen offenbart sich darin die enge wirtschaftliche Verknüpfung der einzelnen Orte untereinander und damit der funktionelle Zusammenhang des gesamten Industriereviers.

Infolge der derzeitigen Hochkonjunktur sowie im Hinblick auf die starke Berufstätigkeit der Frauen (38 Prozent!) ist eine große Neubautätigkeit festzustellen, und das in erster Linie in Pottschach und in Ternitz. Bemerkenswert ist dabei der hohe Anteil von Ein- und Zweifamilienhäusern: er schwankt zwischen

75 Prozent in Wimpassing und 94 Prozent in Sieding. Dennoch schaut die Wohnsituation keineswegs rosig aus. In Ternitz besteht der vorhandene Wohnraum beispielsweise zu 40 Prozent aus Unterkünften mit nur einem einzigen Zimmer! Das alles formt natürlich das Denken der dortigen Menschen. Zwischen den Bauerndörfern und den Industrieorten besteht darüber hinaus ein merkbarer Unterschied im Altersaufbau der Bevölkerung. Aus den Landgemeinden wandern die jungen und mittleren Jahrgänge ab, so daß ein hoher Anteil von Kindern und alten Leuten ziurückbleibt. Und in den Industriegemeinden geht mit den stark vertretenen mittleren Jahrgängen eine hohe Kinderzahl parallel. Dagegen müssen diese städtischen Orte einen Frauenüberschuß registrieren. In den Dörfern ist jedoch eine gleichstarke Verteilung der Geschlechter vorhanden.

Die wirtschaftliche Bevölkerungsstruktur dieses Industriegebietes spiegelt sich natürlich im kommunalpolitischen Gefüge wider. Die SPÖ- Anteile sind allgemein sehr hoch, und auch die Kommunisten machen sich deutlich bemerkbar. Nur in einigen Bauerngemeinden existiert eine Mehrheit der ÖVP.

Die religiöse Intensität

Als Gradmesser der kirchlichen Praxis und der religiösen Situation sehen die katholischen Sozialforscher das Ausmaß des sonntäglichen Meßbesuchs an. Mit Hilfe von Kirchenbesuchszählungen wird hierbei exakt festgestellt, wie groß die Gottesdienstziffer ist. Darunter versteht man das Verhältnis zwischen den Katholiken, die ihre Sonntagspflicht erfüllt haben, und allen zum Sonntagsmeßbesuch verpflichteten Katholiken. Ausgenommen sind davon die Kinder bis sechs Jahre, die Kranken und Bewegungsbehinderten. Wir müssen aber dazu bemerken, daß nicht alle Soziologen mit dieser Feststellungsmethode einverstanden sind, da ihrer Ansicht nach die Gläubigkeit ein Prozeß der menschlichen Seele ist und eben dieser kaum nach äußeren Erscheinungen, wie nach der Sonntagspflicht, allein beurteilt werden kann. Das mag sicherlich vom Standpunkt der strengen Wissenschaft aus stimmen, aber die kirchliche Praxis benötigt trotzdem einen brauchbaren Maßstab der religiösen Aktivität.

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