"Stärker an Gegenwart annähern"

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Die Furche: Frau Mattl-Wurm, was hat Sie als Historikerin und Ausstellungsmacherin an der Bibliothek gereizt?

Sylvia Mattl-Wurm: Dass es sich bei der Bibliothek um eine Schwesterinstitution des Museums handelt: alles Visuelle wird im Museum aufbewahrt, während hier in der Bibliothek alles Textliche vorhanden ist. Es war mir auch bewusst, dass die Sammlungen der Bibliothek ganz außerordentlich wertvoll sind, und darin liegt auch ein ganz großer Reiz.

Die Furche: Die drei großen Wiener Bibliotheken - Nationalbibliothek, Universitätsbibliothek und Wienbibliothek - sind in Frauenhand; wir wissen ja, dass Frauen mehr lesen - hängt das irgendwie zusammen?

Mattl-Wurm: Ich glaube, das ist schlicht und einfach ein Abbild des gesellschaftlichen Wandelns, den wir in den letzten 30 bis 35 Jahren durchmachen: die Möglichkeiten für Frauen, sich in der Wissenschaft zu positionieren, sind ganz andere geworden.

Die Furche: Lesen hat ja viel zu tun mit der Frauenemanzipation, und die Geschichte des Lesens ist ohne Frauen nicht denkbar: auf historischen Bildern sieht man meistens Frauen mit dem Buch dargestellt.

Mattl-Wurm: Ich denke da an die Zeit der Aufklärung, wo es für Frauen erstmals möglich wird, an Broschüren, an Literatur zu kommen. In dieser Zeit hat man zum ersten Mal über Alltagskultur Broschüren verfasst, sich auch mit Frauen von niederem Stand beschäftigt. Mit der Aufklärung wird das Bild der lesenden Frau aktuell.

Die Furche: Mit dem neuen Namen "Wienbibliothek im Rathaus" verstärken Sie den Wien-Bezug. Ist es das, was diese Bibliothek von den anderen unterscheidet?

Mattl-Wurm: Absolut! Die Bibliothek ist ja 1780 aufgelöst, in die Nationalbibliothek integriert und 1856 neu begründet worden. Und der Gründungsauftrag war: Viennensia zu sammeln und Austriaka. Und das ist auch der Schwerpunkt der Bibliothek: alles zu sammeln, was in irgendeiner Weise mit Wien zu tun hat, und natürlich auch Literatur, die in Wien entsteht. Bei fremdsprachiger Wien-Literatur haben wir einen starken Aufholbedarf. Es wird manchmal unterschätzt, was an amerikanischen Institutionen über Stadt geforscht wird, und da spielt natürlich Wien als eine der wichtigsten Städte der 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Ich kenne auch sehr viele Emigranten, die 1938 Österreich verlassen mussten, deren Forschungsgebiet aber Wien und Österreich geblieben ist.

Die Furche: Und außerdem haben Sie Nachlässe von Wiener Autoren.

Mattl-Wurm: Wir sind eines der größten Literaturarchive Europas und haben einen sehr starken Bestand aus dem 19. Jahrhundert mit Schwerpunkt Raimund, Nestroy, Grillparzer. Aber auch das Karl Kraus-Archiv ist bei uns. Und wir haben in den letzten Jahren große und gute Ankäufe getätigt: den Nachlass von H.C. Artmann und Gerhard Fritsch. Das literarische Archiv von Friederike Mayröcker ist hier, von Liesl Ujvary, von Marie-Thérèse Kerschbaumer. Mein Ziel ist, dass wir uns sukzessive stärker an die Gegenwart annähern. Das ist natürlich auch von einer beständigen Arbeit mit Autoren abhängig.

Die Furche: Das heißt, es wird auch weiterhin Ausstellungen wie die mit dem Jubiläumsfest zu Ende gehende zu Gerhard Fritsch geben?

Mattl-Wurm: Mit Sicherheit! Ende des Jahres eröffnen wir die Bibliothek von H.C. Artmann, die ja ein Sinnbild seines Lebens ist, seiner vielfältigen Interessen von Reiseführern, sprachwissenschaftlichen Werken bis zu Krimi-und Science-Fiction-Literatur; dafür werden wir auch wieder ein Buch vorbereiten.

Die Furche: Was sind darüber hinaus die wichtigsten Projekte?

Mattl-Wurm: Im Mai werden wir die Ausstellung "Rare Zauberkünste" eröffnen. Wenige wissen, dass wir eine sehr starke Bibliothek aus dem späten 18. Jahrhundert haben: viele Rarissima, angefangen von Johann Wolfgang von Kempelen mit seinen Schachmaschinen bis zu allen möglichen Zauberbüchern aus Aufklärung und Biedermeier.

Vor zwei Jahren haben wir den Nachlass von Prawy übernommen: an die 800 Kisten mit Büchern, aber auch vielfältigen Plastiksackerln mit Zeitungsausschnitten, Fotografien und Unterlagen. Wir sind jetzt seit fast einem Jahr daran, diesen Nachlass zu ordnen und daraus auch eine Ausstellung zu machen.

Die Furche: Vor kurzem konnten Sie den Tiefspeicher eröffnen. Wie lange haben Sie jetzt genug Platz?

Mattl-Wurm: Genug Platz haben wir eigentlich nie. Im Tiefspeicher können wir unsere wertvollsten Objekte unterbringen: die Handschriften-und die Plakatsammlung mit rund 250.000 Plakaten. Sie wurde 1923 begründet, und 1974 wurde das gewista-Archiv übergeben, das heißt jedes Plakat, das jemals im Wien von der gewista affichiert wurde, hat hier seinen Platz gefunden.

Die Furche: Ist die Bibliothek hauptsächlich für Wissenschaftler und Spezialisten, oder denken Sie auch an ganz "normale" Leser?

Mattl-Wurm: Unser Zielpublikum ist vor allem der Wissenschaftler, der Forscher. Es ist eine Präsenzbibliothek, man kann die Bücher nicht nach Hause nehmen. Natürlich gibt es auch ein großes Interesse, dass die Bibliothek bekannter wird und auch Wienerinnen und Wiener den Weg hierher finden und sich über die Geschichte Wiens informieren oder vielleicht eine Geburtstagszeitung bestellen. Hier ist die weltweit konkurrenzlose Sammlung an Viennensien, man kann von Bezirksgeschichten über Familiengeschichten bis zu topografischen Bänden alles zu Wien finden. Ich möchte, dass auch Schüler die Bibliothek besuchen und am Buch oder an der Handschrift, am Musikautograf, am Original arbeiten.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Das Gedächtnis der Stadt

Seit Mai 2004 ist die Historikerin und Kunsthistorikerin Sylvia Mattl-Wurm Direktorin jener Bibliothek, die sich zu ihrem 150. Geburtstag umbenennt: Aus der "Wiener Stadt-und Landesbibliothek" wird die "Wienbibliothek im Rathaus". Neben dem Wien Museum, wo sie ab 1986 als Kuratorin u.a. für Möbel, Kunstgewerbe und für große Ausstellungen zuständig war, und dem Archiv im Gasometer sieht Sylvia Mattl-Wurm "ihre" Bibliothek als zentrales Gedächtnis der Stadt. Und so heißt auch der Band, der zum Jubiläum erscheint und die Wienbibliothek anhand vielfältiger Themen vorstellt. Am Freitag, 28. April findet um 19 Uhr ein Fest mit Vortrag und Lesungen statt (Teilnahme nur mit Anmeldung!), am 9. Mai wird um 17.30 Uhr unter dem Titel "Kunst in der Musiksammlung" ein Spätnachmittag für Sigmund Freud veranstaltet und am 18. Mai um 19.30 Uhr die Ausstellung "Rare Künste. Zauberkunst in Zauberbüchern" eröffnet.In den letzten Jahren hat die Wienbibliothek 340 Schubert-Autografen ihrer Musiksammlung digitalisiert - die Präsentation findet am 1. Juni um 11 Uhr statt. Informationen über das umfangreiche Programm bis Jahresende sind unter www.wien.at/kultur/wienbibliothek zu finden.Und was sich abseits aller Veranstaltungen lohnt: die Bibliothek selbst zu besuchen. Natürlich kann man das auch im Internet: www.wienbibliothek.at. Dort ist auch jedes einzelne Buch zu finden.

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