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Sehr selbstverständlich sprechen wir von Menschenwürde. Doch in Wahrheit steht sie immer auf dem Spiel. Vom Verantwortungsraum eines notwendigen Glaubens.

In wachsendem Maße entzünden sich globale Konflikte anhand von Gerechtigkeitsfragen. Es handelt sich um mehr als bloße Verteilungskämpfe. In der Teilhabe aller Menschen an natürlichen Ressourcen und sozialen Gütern besteht die Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Sie verlangt uns ab, die Fakten, die wir schaffen, vor den Folgen der Zukunft, die wir absehen können, zu verantworten. Der Umbruch der Sozialsysteme, die Verteilung von Umweltbelastungen - sie fordern zum Nachdenken über die Mechanismen gesellschaftlicher Ein- und Ausschließungen auf. Migrationsströme teilen die Welt mitten in Europa und ziehen Grenzen, die sich über Ernährung und Gesundheit, Einkommen und Bildung definieren. Sie betreffen die Möglichkeiten persönlicher Lebensgestaltung und tasten die Würde von Menschen an.

Freiheitsansprüche und Rechte

Die demokratischen Verfassungsstaaten sprechen sehr selbstverständlich von dieser Würde. Ihren Gehalt legen sie in Freiheitsansprüchen und Rechten fest. Dennoch bleibt die Rede von der Menschenwürde prekär. Einerseits wird sie fraglos vorausgesetzt, wenn sie für "angeboren“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948) und für "unantastbar“ (Deutsches Grundgesetz) erklärt wird. Andererseits steht sie infrage, denn die Würde von Menschen steht immer dann auf dem Spiel, wenn deren Lebensgrundlagen bedroht oder gar vernichtet werden. Darüber hinaus reißt sie einen Abgrund ihrer Begründbarkeit auf. Die Zuschreibung einer Würde, die man Menschen nicht entziehen kann und die also sich jeder parlamentarischen Abstimmung entzieht - sie bedarf der Bestimmung eines Grundes. Die Begründungsmöglichkeiten des weltanschaulich neutralen Staates erschöpfen sich jedoch in der Zustimmungsfähigkeit seiner Bürger. Der Grund der Menschenwürde wird also mit dem demokratischen Willen gesetzt. Er bedarf einer Anerkennung, von der zugleich anzunehmen ist, dass ihr Gegenstand noch diese Anerkennung überschreitet. Anders gesagt: Man muss dem zustimmen, was vor aller Zustimmung liegt. Ein demokratisch unmöglicher, aber human notwendiger Satz.

Über das Unverfügbare kann kein Verfassungsorgan verfügen. In diesem anfechtbaren Rechtsraum spielen sich die Verantwortungskonflikte unserer Zeit ab. Was Menschenwürde bedeutet, wird jeden Tag zum Gegenstand von Verhandlungen. Wem kann man Mangel an Bildung oder Wasser zumuten? Wer erscheint kreditwürdig? Wessen Arbeitskraft ist mehr oder weniger wert? Ein Blick in die Entstehung der Menschenrechtsidee macht nachdenklich. Christlich haftet sie an zwei Überzeugungen: "Diese beiden Grundelemente sind die Vorstellung von der unsterblichen Seele jedes Menschen als dem sakralen Kern jeder Person und vom Leben des einzelnen als einer Gabe, aus der Verpflichtungen resultieren, die das Recht auf Selbstbestimmung über unser Leben begrenzen.“ (Hans Joas) Es handelt sich um Bestimmungen, die etwas Unverfügbares mit dem Menschsein verbinden. Sie führen an eine Grenze: Der Mensch ist mehr als sein Ort im System. Sein Leben steht weder in seiner noch in gesellschaftlicher Verfügungsmacht. Der Mensch ist sterblich, aber er hat Teil am Unsterblichen, nämlich an der Lebensmacht Gottes. Das begrenzt und entgrenzt den Menschen gleichermaßen.

Religionen haben es mit solchen Grenzbestimmungen zu tun. Sie erfüllen ihren gesellschaftlichen Auftrag, indem sie Endlichkeitsprobleme bearbeiten und Sinnannahmen zur Verfügung stellen. Der Verantwortungsraum von Religionen im Gemeinwesen lässt sich damit bezeichnen. Deshalb arbeitet der säkulare Staat auch mit Religionsgemeinschaften zusammen. Zugleich führt religiöses Wissen aber über diese Zuordnung hinaus. Es bezieht sich auf eine Macht, die jede Funktionsannahme aushebelt. "Gott ist mehr als notwendig“ - so hat Eberhard Jüngel die Unverfügbarkeit Gottes markiert. Das heißt aber auch: Menschsein ist nicht verhandelbar. Das Christentum sieht den Menschen selbst als heilig an. In seinem Spiegel kann man die schöpferische Lebensnähe Gottes entdecken. Der Mensch wird damit von einer Zustimmung her gedacht, die sich nicht mehr auflösen lässt. Der Lebenswille Gottes geht dabei so weit, dass er alles, was tödlich ist, also auf Vernichtung zuläuft, auf Leben hin umstellt. Die Würde jedes einzelnen Menschen gründet in der Unverfügbarkeit dieses Lebenszuspruchs. Leben ist widersprüchlich, bizarr, mitunter unerträglich in Erfahrungen des Leids, mit denen alles auf Tod geschaltet scheint. Aber wie die Entstehung intelligenten Lebens im kosmischen Maßstab als das Unwahrscheinliche schlechthin erscheint, so stellt sich auch das Bekenntnis zur Lebensmacht Gottes als Reflex seines unverrechenbar schöpferischen Handelns dar: der unableitbaren Erfahrung, "dass etwas ist und nicht vielmehr nichts“ (Leibniz).

Sprengkraft für unsere Vernunft

Der Glaube an die Lebensmacht Gottes und an das Leben als Geschenk ist nicht bloß gesetzt. Er haftet christlich an Erfahrungen, wie sie sich in den Briefen des Paulus finden und bis heute normative Kraft entfalten. Dieser Paulus entdeckt die Lebenswirklichkeit Gottes am ausgeschlossenen Ort der eigenen Erwartungen: am Kreuz. Wo Tod ist und wo nur ein von Gott Verfluchter (Dtn 21,23) zu finden sein sollte, zeigt sich, dass Gottes Lebenswille andere Grenzen zieht, als Menschen sie vorsehen. Diese Lebensmacht Gottes entspricht seinem schöpferischen Willen - dass etwas ist und nicht vielmehr nichts. Das besitzt Sprengkraft für unsere Vernunft, die in die unmögliche Vorstellung eines Anfangs vor allem Anfang oder einer Anfanglosigkeit hineinscheitert. Philosophisch behält das Projekt kritischer Vernunft immer etwas von einer Grenzwertbetrachtung. Die Theologie des Kreuzes bestimmt diese Betrachtung religiös.

Für Paulus wird auf dieser Basis etwas Entscheidendes möglich, nämlich den grenzüberschreitenden Gott über jegliche religiösen, ethnischen und sozialen Schranken hinaus als Lebensmacht für alle zu bestimmen - weil für ihn die Erfahrung unabweisbar wurde, dass der Gekreuzigte lebt. Es handelt sich um eine Erfahrung, die in der Geschichte das schier Unmögliche bezeichnet und die doch auf ihre Weise die Kreativität Gottes reflektiert. Die Würde des Menschen findet hier einen Grund, der allen Abgründen der Inhumanität widersteht. Und der in keinem Kalkül aufgeht. Das Unverfügbare beansprucht damit Raum in unseren Diskursen. Es macht jenen Rest namhaft, der in und nach allen rationalen Begründungen und gesellschaftlichen Verabredungen bleibt. Theologie wird hier politisch: angesichts von Barbarei und Ungerechtigkeit - in der notwendigen Verantwortung des Humanen.

* Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie in Salzburg

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