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Zur neuesten politischen Entwicklung in Deutschland

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Die in letzter Zeit in rascher Bewegung befindliche Auseinandersetzung über die künftige Staatsform Deutschlands, deren Bedeutung im Zusammenhang mit dem Berlin-Konflikt und der großen Auseinandersetzung Ost- West täglich neue Kommentierung durch die Ereignisse erfährt, wird in diesem Artikel eines deutschen Fachmanns auf ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht, Schwierigkeiten und Chancen der innerdeutschen Zukunft werden aus diesem Überblick über die jüngste Vergangenheit neu einsichtig gemacht.

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Die in letzter Zeit in rascher Bewegung befindliche Auseinandersetzung über die künftige Staatsform Deutschlands, deren Bedeutung im Zusammenhang mit dem Berlin-Konflikt und der großen Auseinandersetzung Ost- West täglich neue Kommentierung durch die Ereignisse erfährt, wird in diesem Artikel eines deutschen Fachmanns auf ihre Entstehungsgeschichte hin untersucht, Schwierigkeiten und Chancen der innerdeutschen Zukunft werden aus diesem Überblick über die jüngste Vergangenheit neu einsichtig gemacht.

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„Die Furche”

Der österreichische Leser wird sich bei Berichten über die Entwicklung der letzten Monate in Deutschland gefragt haben, warum wieder eine neue Körperschaft, der parlamentarische Rat in Bonn, geschaffen und warum nicht der Wirtschaftsrat in Frankfurt damit betraut wurde, ein Grundgesetz für den neuzubildenden deutschen Bundesstaat zu entwerfen.

Die Erklärung besteht darin, daß das vereinigte Wirtschaftsgebiet der amerikanischen und britischen Besatzungszone keine Gebietskörperschaft, kein politisches Gemeinwesen darstellt. Die zwei Zonen bilden nur eine wirtschaftliche Einheit, geschaffen durch Vereinbarungen der Regierungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, seine Organe beruhen auf Gesetzen der Militärgouverneure und sind praktisch nur als deren Hilfsorgane anzusehen, auch wenn sie „popularly controled” sind, das heißt mittels indirekter Wahl durch die Landtage und Staatsregierungen demokratisch gebildet sind. Der Zweck des vereinigten Wirtschaftgebietes ist auf ausschließlich wirtschaftliche Angelegenheiten beschränkt.

Politische Gemeinwesen mit umfassendem Staatszweck sind nur die Staaten der amerikanischen und französischen Zone und die Länder der britischen und russischen Zone. Sie sind nach der bedingungslosen Kapitulation und nach Übernahme der gesamten öffentlichen Gewalt in Deutschland durch die Zonenbefehlshaber, beziehungsweise durch den Kontrollrat als koordinierende Instanz in den Jahren 1945 und 1946 wegen der Zerschneidung verschiedener Länder in einzelne Teile nach der Zonentrennung von den Zonenbefehlshabern aus Teilen von größeren Ländern, preußischen Provinzen und durch Einschluß kleinerer Länder ohne Volksbefragung neu geschaffen worden. Von ihnen war nur Bayern ein historischer Staat, der seinen Umfang im wesentlichen beibehalten hatte und auf eine von seinen Bewohnern bejahte Staatstradition zurückblicken konnte, die auch das Hitlerregime überstanden hat; auch Hamburg und Bremen sind als Freie Städte wieder anerkannt worden.

Die Staaten, beziehungsweise Länder gaben sich auf Anordnung der Militärgouverneure durch gewählte Versammlungen, beziehungsweise Landtage Verfassungen, die in der amerikanischen und französischen Zone durch Volksentscheid bestätigt wurden. In der britischen Zone gab sich nur Hamburg eine Verfassung, die anderen Länder begnügten sich mit dem Erlaß von Landesordnungen. Man könnte sagen, daß die Staaten und Länder durch den Erlaß der Verfassungen und Landesordnungen und durch die Wahl von Organen, die das Volk repräsentieren, wirkliche Staaten eigenen Rechts geworden sind. Staaten, deren Souveränität allerdings durch die übergeordnete und nicht abgegrenzte Gewalt der Besatzungsmacht beschränkt ist.

Zwei Arten von Staatsgewalten sind also zur Zeit in Deutschland vorhanden: die Staatsgewalt der jeweiligen Besatzungsmacht der Zone, die im völkerrechtlichen Denken des Auslandes immer mehr und mehr als Treuhänderschaft aufgefaßt wird, und die deutsche Staatsgewalt, jeweils beschränkt auf den einzelnen Staat, beziehungsweise da Land und beschränkt je nachdem, welche Kompetenzen die Zonenbefehlshaber sich reserviert haben. Durch interne Anweisungen und Direktiven an ihre Dienststellen, die auch den deutschen Behörden mitgeteilt wurden, haben sich die Zonenbefehlshaber jeweils selbst Beschränkungen ihrer Staatsgewalt auferlegt, grundsätzlich ist sie aber nach außen, das heißt gegenüber der deutschen Staatsgewalt nach wie vor unbeschränkt. Die amerikanische Besatzungsmacht ist dabei in der tatsächlichen Überlassung von Kompetenzen an die deutschen Organe am weitesten gegangen.

Im Juni 1947 wurde von der Ministerpräsidentenkonferenz in München die Forderung erhoben, daß seitens der Besatzungsmächte ein Besatzungsstatut erlassen werden solle, wenn ein Friedensvertrag nicht in Bälde zu erwarten sei. Es wurde dargelegt, daß durch die Entwicklung seit dem Zusammenbruch zwei Rechtsordnungen und zwei Staatsgewalten sich überschneiden und überlagern, die in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt werden müßten. Durch das Besatzungsstatut sollten die Rechte der deutschen Regierungsorgane von denen der Besatzungsmächte genau abgegrenzt werden.

Solange ein solches Besatzungsstatut nicht erlassen ist, sind im Grunde genommen, trotz Annahme der Verfassung durch Volksentscheid in den Ländern und trotz ihrer Genehmigung durch die Militärgouverneure die Rechte der verfassungsmäßig konstituierten Organe der Länder nicht ganz, aber beinahe so prekär wie die Rechte der auf Militärgesetzen beruhenden Organe des vereinigten Wirtschaftsgebietes oder anderer Hilfsorgane der Besatzungsmächte.

Es wäre bei dieser Sachlage durchaus möglich gewesen, die Organe der Doppelzone durch Verleihung weiterer Kompetenzen als vorläufige politische Vertretung der Bevölkerung anzu erkennen und das vereinigte Wirtschaftsgebiet zu einer Gebietskörperschaft und zu einem politischen Gemeinwesen auszugestalten. Dagegen sprach der Mangel einer demokratischen Legitimierung, die nur in einer vom Volk direkt oder indirekt beschlossenen Ordnung zu finden ist. Der provisorischen Lösung widerstrebte aber auch Frankreich, das seinerzeit seine Besatzungszone dem vereinigten Wirtschaftsgebiet nicht angeschlossen hatte und dieses nicht ohne weiteres durch bloßen Beitritt zum Washingtoner Abkommen zu einer „Trizone” erweitern lassen wollte. Frankreich war vor allem daran gelegen, eine ihm genehme Regelung der Verwaltung der Ruhrindustrie zu erreichen. Solange dies nicht zugestanden war, fand es sich nicht bereit, einen weiteren Schritt für eine politische Neuordnung in Deutschland zu gestatten.

Im Zusammenhang mit den weltpolitischen Entwicklungen der Jahre 1947/48 wurde nun von den USA offenbar immer mehr erkannt, daß die Unklarheit in den staatlichen Verhältnissen Deutschlands, und seine Einordnung in die Staatenwelt nicht mehr lange andauern dürfe. In langwierigen Verhandlungen von April bis Anfang Juni 1948 wurde von einer Londoner Konferenz der sechs Mächte, USA, Großbritannien, Frankreich und Beneluxstaaten eine Vereinbarung über die weitere Behandlung der deutschen Frage getroffen. Kernstück war dabei die Übereinkunft über Einsetzung einer internationalen Ruhrbehörde, bestehend aus den erwähnten sechs Mächten und Deutschland selbst (vorläufig vertreten von den drei westlichen Militärgouver- neuren), zwecks Kontrolle der Verteilung der Kohle-, Koks- und Stahlerzeugung. Daran schloß sich eine Übereinkunft, die politische und wirtschaftliche Organisation Deutschlands wenigstens in den Westzonen so auszubauen, „daß es in die Lage versetzt wird, diejenigen staatlichen Aufgaben zu übernehmen, die mit den Mindesterfordernissen der Besatzung und der Kontrolle zu vereinbaren sind, und daß es letzten Endes in die Lage versetzt wird, die volle Regierungsverantwortung zu übernehmen”. Es wurde festgelegt, daß die Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten der westlichen Zonen eine gemeinsame Sitzung abhalten und diese ermächtigen sollten, eine „verfassunggebende Versammlung einzuberufen und eine Verfassung auszuarbeiten”. Verlangt wurde von dieser Verfassung: Errichtung einer föderalistischen Regierungsform, nicht aber die Wiederherstellung eines zentral regierten Reiches; der Schutz der Rechte der Einzelstaatcn; Vorsorge für eine angemessene zentrale Autorität; Gewährleistung der Rechte der Individuen. Diese Verfassung soll nach Prüfung durch die Militärgouverneure den einzelnen Staaten in Deutschland zur Ratifizierung durch das Volk vorgelegt werden. Die Ministerpräsidenten sollten ferner ermächtigt werden, die Fragen der Grenzen der einzelnen Länder zu erörtern, um festzustellen, welche Änderungen den Militärgouverneuren vorgeschlagen werden sollten, um eine endgültige Lage zu schaffen, mit der die Bevölkerung einverstanden ist.

Auf Grund der im vollen Text nicht bekannten, sondern nur im Kommunique mitgeteilten Londoner Abmachungen wurden den Ministerpräsidenten der drei Zonen von den Militärgouverneuren Anfang Juli drei Dokumente vorgelegt zu den Fragen der Verfassung, der Neuordnung der Grenzen und des Besatzungsstatuts, zu denen sie Stellung nehmen sollten.

In ihrer Antwort haben die Ministerpräsidenten besonders eingehend ihre Stellungnahme zum Besatzungsstatut präzisiert, die von einer Kommission, unter Vorsitz des bayrischen Ministerpräsidenten Doktor Ehard, ausgearbeitet wurde. Hierin wurde vor allen Dingen verlangt, daß sich die Besatzungsmächte Maßnahmen nur insoweit Vorbehalten sollen, als diese zur Verwirklichung der Besatzungszwecke notwendig sind. Im Außenhandel sollten sich die Maßnahmen der Besatzungsmächte auf allgemeine Überwachung der Tätigkeit der deutschen Organe beschränken, jedoch wurden deutsche Vertretungen zur Wahrung der wirtschaftlichen und Handelsinteressen im Ausland verlangt, Anweisungen der Besatzungsmächte sollten nur durch die obersten Stellen an die oberste deutsche Gebietsbehörde erteilt werden. Die Natural- und Dienstleistungen an die Besatzungsmächte sollten in einem genauen Verhältnis zu den Hilfsquellen des Landes festgelegt werden, insbesondere wurden eingehende Vorschläge bezüglich der Besatzungskosten gemacht.

Bei ihrer Stellungnahme zur Frage der Verfassung haben die Ministerpräsidenten besonders betont, daß „sie in Anbetracht der bisher nicht zustande gekommenen Einigung der vier Besatzungsmächte besonderen Wert darauf legen, daß bei der bevorstehenden Neuordnung alles vermieden werde, was die Kluft zwischen Ost Und West vertiefen könnte”. Sie schlugen deshalb nicht die Ausarbeitung einer regulären Verfassung, sondern eines Grundgesetzes für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes der Westmächte vor, über das nicht durch das Volk, sondern nur durch die Landtage abgestimmt werden sollte; es sollte also nicht ein westdeutscher BundesStaat, sondern nur eine wirtschaftliche und administrative Einheit der drei Westzonen hergestellt werden.

Auch die Neugliederung der Länder, zu der nur die Ministerpräsidentenkonferenz, nicht aber die verfassunggebende Versammlung Stellung nehmen soll, wollten die Ministerpräsidenten nicht überstürzt wissen und schlugen zunächst nur eine Änderung im Gebiete der ehemaligen Freistaaten Württemberg .und Baden vor.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerpräsidenten und Militärgouverneuren schienen anfangs ziemlich groß zu sein. Die Londoner Abmachungen gingen von einer konkreten, anscheinend noch länger dauernden weltpolitischen Situation — nämlich dem Gegensatz zwischen Ost und West — aus, auf Grund deren die Wiedererrichtung einer gesamtdeutschen Regierung für alle Zonen unter Abschluß eines deutschen Friedensvertrages in absehbarer Zeit nicht erzielbar schien. Man wollte deshalb die Errichtung eines deutschen Staates wenigstens in den Westzonen, praktisch eines westdeutschen Staates. Die Ministerpräsidenten dagegen gingen von der innerdeutschen Situation aus; sie hielten sich nicht für befugt, einen westdeutschen Staat zu schaffen; sie erkannten zwar die Notwendigkeit an, in den Westzonen eine gemeinsame staatliche Ordnung wieder herzustellen, es schien ihnen aber genügend, zunächst eine provisorische Ordnung vorzusehen.

Betrachtet man nun die gesamte politische Entwicklung Deutschlands seit dem Zusammenbruch und die Unmöglichkeit für die deutschen Stellen, wirklich autonome Entschlüsse zu fassen, so waren die divergierenden Meinungen im Grunde genommen nicht so weit voneinander entfernt, wie es anfänglich schien. Sie wurden schließlich nur als durch die notwendig verschiedenen Blickpunkte beider Partner und durch Verschiedenheiten der Terminologie bedingt angesehen, so daß ein Kompromiß zustande kam.

Die Militärgouverneure gaben sich mit dem Erlaß eines Grundgesetzes in der Eigenschaft einer provisorischen Verfassung zufrieden und sagten zu, die Frage des Volksentscheids über die Verfassung ihren Regierungen zu unterbreiten. Dabei ist festzustellen, daß es den Ministerpräsidenten freistand, den Auftrag zur Vorbereitung der Verfassung und auch die anderen Aufträge abzulehnen.

Mit der Annahme des Auftrages durch die Ministerpräsidenten wurde die grundlegende Entscheidung getroffen. Auf dieser Grundlage wurde von einem Ausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz im Verfassungskonvent zu Herrenchiemsee in der zweiten Hälfte des Augusts ein Verfassungsentwurf für einen Bundesstaat ausgearbeitet, der in vielen Punkten Varianten enthielt und als Material dem Parlamentarischen Rat überwiesen wurde. Ferner wurden auf Grund eines von den Ministerpräsidenten ausgearbeiteten Modellgesetzes in den einzelnen Landtagen Gesetze über die Wahl des Parlamentarischen Rates erlassen und danach von jedem Landtag die auf das betreffende Land entfallenden Mitglieder des Parlamentarischen Rats gewählt. Unter diesen Auspizien begann in Bonn Anfang September zum erstenmal die Tagung des Rates, der allerdings bald andere Wege einschlug, als sie in Herrenchiemsee gezeigt worden waren.

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