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Digital In Arbeit

Information, eine totale Unterhaltung?

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Das Personenrodeo um die Neubestellung der Organe im ORF ist in vollem Gang und stellt derzeit innenpolitischen Gesprächsstoff ersten Ranges dar. Eine Frage jedoch, die das zentrale Anliegen sein spllte, wird nun äußerst stiefmütterlich behandelt: wie wird das ORF-Programm „nachher” aussehen?

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Das Personenrodeo um die Neubestellung der Organe im ORF ist in vollem Gang und stellt derzeit innenpolitischen Gesprächsstoff ersten Ranges dar. Eine Frage jedoch, die das zentrale Anliegen sein spllte, wird nun äußerst stiefmütterlich behandelt: wie wird das ORF-Programm „nachher” aussehen?

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Die Informationsexplösion, deren Augenzeugen wir sind, versetzt nicht nur Medienexperten in Unruhe, sondern hat bereits weltweite Folgeerscheinungen gezeitigt. Es besteht heute ein Trend zur Flucht vor der sozialen Realität in den Mammutsektor Unterhaltung. Die von vielen nicht mehr zu bewältigende, komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit wird entweder gänzlich (durch Konsum von Unterhaltung im engeren Sinn) oder wenigstens teilweise (durch Konsum von bereits (gefilterter, simplifizierter und oberflächlicher „politischer Unterhaltung”) verdrängt. Dieser Trend wurde insbesondere durch Untersuchungen in den USA bestätigt, wo zahlreiche private Rundfunkstationen einen unerbittlichen Konkurrenzkampf um Seher— und damit gleichzeitig um werbewillige Unternehmungen — führen. Der Sehertest ist Maxime der Programmgestaltung geworden. Daß dieser Trend in Österreich noch nicht so deutlich auftritt, verdanken wir der Konstruktion des staatlichen Rundfunkmonopols und dem gleichzeitigen gesetzlichen Auftrag zur „umfassenden Information der Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Fragen”. Anderseits aber bestätigen Tests, daß 2,549.000 Konsumenten der „Shiloh Ranch” 266.000 Sehern einer (gleichzeitig im zweiten Programm gesendeten) Lenin-Biographie gegenüberstehen. Dieses Beispiel steht nicht allein, sondern wird durch eine umfangreiche Liste von Infratestergebnissen bestätigt.

So notwendig Kontrastprogramme sind, die dem Zuseher eine echte Wahlmöglichkeit bieten, so dringlich ist auch der gezielte Einbau von sogenannten „Schutzzonen”, die Herrn Österreicher zwingen, ein bestimmtes Quantum an politischer Information, Kultur und Wirtschaft zu konsumieren. Beim Publikum ist diese Art von Zwang (manche würden es vielleicht sogar „Manipulation” nennen) nicht beliebt, genausowenig bei den Programmachern, die dann letztlich durch Infratests vernichtende Zensuren erhalten. Ein delikater Problemkreis, um dessen Bewältigung die Verantwortlichen für die Programmgestaltung nicht zu beneiden sind, denn eines muß festgehalten werden: der ORF hat einen eindeutigen Bildungsauftrag, der nicht durch Kapitulation zu einem Gefälligkeitsprogramm werden darf. Ist doch auch der oben genannte „Zwang” nur ein sehr bedingter, da ja auch jeder die Freiheit hat, keines von mehreren Programmen auszuwählen.

Das ORF-Gesetz von 1974 hat diese Intention noch stärker hervorgehoben, indem es „Förderung der Schul- und Erwachsenenbildung” postuliert Gerade hier aber ergeben sich, mit der neugeschaffenen Einrichtung von zwei TV-Intendanten (und somit zwei getrennten TV-Pro- grammen) wesentliche Fragen. Werden sich die beiden neuen, selbständigen TV-Programme als Konkurrenz in bezug auf Infratestergebnisse verstehen? Dann müßte die Programmqualität binnen kürzester Zeit bedeutend sinken. Oder wird es eine gegenseitige und weitreichende Abstimmung geben, wie sie derzeit in der BRD zwischen ARD und ZDF geplant wird?

Ist eine gegenseitige Absprache auf dem Sektor Unterhaltung noch eher leicht vorstellbar und realisierbar, so stellen sich bei den Informations- und Bildungsprogrammen (im weitesten Sinn) eine Reihe unbeantworteter Fragen: wird es zwei verschiedene Nachrichtensendungen geben, mit oder ohne politische Akzentsetzung, zeitlich parallel oder mit der Möglichkeit, beide Sendungen zu empfangen. Was wird aus den Magazinsendungen wie „Horizonte”, „Querschnitte” und „teleobjektiv” und aus den Bildungssendungen und -Serien, die derzeit vornehmlich im Vorabendprogramm laufen?

Der Nachrichtenkonsument sucht in der Regel nicht in erster Linie Information, sondern permanente Bestätigung der eigenen Meinung, Bekräftigung von Klischees (was den noch immer respektablen Absatz von Parteizeitungen in Österreich erklärt). Herr Österreicher hat „seine” Zeitung, „seinen” Lieblingskolumnisten (der ihm aus der Seele spricht), „seine” Lieblingssendungen und „seine” Reporter, Kommentatoren, Interviewer. Der ORF hat es zwar kraft seiner Monopolstellung nicht notwendig, aus kommerziellen Interessen dem Konsumenten nach dem Mund zu reden, dennoch aber besteht bei zwei voneinander unabhängigen Fernsehprogrammen die Möglichkeit eines Wettbewerbsverhältnisse mit der immanenten Gefahr einer Nivellierung nach unten.

Wer auch immer die Personen sein sollten, die im ORF Verantwortung tragen werden, es wird sich als vordringlich erweisen, bezüglich der Programmgestaltung rechtzeitig genaue und zielführende Absprachen zu treffen. Dies um so mehr, als bereits ein Dritter ungeduldig mit den Hufen scharrt: die „neuen Medien” (Kabel, Kassette, Bildplatte), die wohl in erster Linie den kommerziellen Aspekt im Auge haben, werden bildungspolitische Funktionen sicherlich nicht erfüllen, womit die Möglichkeit der totalen Unterhaltung, gepaart mit weitreichender Abstinenz von der sozialen Wirklichkeit, gegeben ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, welchen kometenhaften Aufstieg die Regenbogenpresse mit ihren Illustrierten, Magazinen und Groschenromanen im Vergleich zum engagierten, seriösen Journalismus genommen hat, dann fällt die Vision einer abgestumpften, desinteressierten Unterhaltungs- (Konsum-)Gesellschaft nicht mehr schwer.

„Information ist Anfang und Grundlage der Gesellschaft”, schreibt Karl Steinbuch. Eine Gesellschaft, die sich auf der Informationsflucht befindet, sei es aus Desinteresse, aus Unverständnis infolge Über-Infor- mation oder zusammenhanglos präsentierter Information in einer immer komplizierter zu überschauenden sozialen Realität, gibt sich selber auf.

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