6811346-1972_36_05.jpg
Digital In Arbeit

Matura mit dem Bildschirm

Werbung
Werbung
Werbung

Gebildet sein gilt im Kulturstaat Österreich noch immer als Privileg einer bestimmten Bevölkerungsschichte, genauer gesagt: als Privileg der sogenannten „oberen“ Klassen. Verfassungsmäßig ist der Klassen-11 Staat allerdings seit mehr als einem Jahrhundert von staatlichen Ordnungen abgelöst worden, die jedem Einzelnen das Recht auf Bildung zusichern.

„Das Recht auf-Bildung darf niemandem verwehrt werden .'..“ heißt es schließlich wörtlich im Artikel 2 des Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 zur Konvention zum Schutz der

Menschenrechte und Grundfreiheiten. Mit diesem Gesetz übernahm unser Staat zugleich die Verpflichtung, jedem Menschen die seinem Wollen, seinem intellektuellem Leistungsvermögen adäquate Bildung zu vermitteln.

Aber was hat man unter dieser Bildung denn eigentlich zu verstehen?

Laut Meyers Lexikon ist Bildung sowohl der Prozeß, in dem der Mensch seine geistig seelische Gestalt gewinnt, als auch diese selbst.

Dr. Alexander Giese, Chef des Bildungsfernsehens in Österreich, bezeichnet Bildung als ein Wissen, das zu einem dauernden, richtungsweisenden Bestandteil des Menschen wird. Er meint weiters, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft alles darauf hin dränge, den Menschen zu bilden, ihn damit geeigneter für den

Lebenskampf zu machen. Das Problem allerdings, sieben Millionen Österreicher zu bilden, ist nach wie vor nicht gelöst und zieht eine Reihe von Fragen nach sich, die Wissenschaftler und Politiker in gleicher Weise beschäftigen. Aber nur die Medien Rundfunk und Fernsehen sind durch ihre große Reichweite heute in der Lage, an der Bildungsfront einen strukturellen Durchbruch zu erzielen und werden das in Zukunft in wesentlich erweiterter Form zu tun haben.

Die Funktion der Medien als Bildungsvermittler ist im Rundfunkgesetz aus dem Jahre 1966 klar formuliert:

„Der österreichische Rundfunk hat durch die Herstellung und Sendung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen ... vor allem zu sorgen für: a) Die Verbreitung von Volks- und Jugendbildung; b) Die Vermittlung und Förderung von Kunst und Wissenschaft...“

Im ORF gab es bisher eine Anzahl von Sendungen, die diesen gesetzlichen Auftrag mehr oder minder erfüllten. Denn wenn man „bilden“ ethymologisch auf das lateinische „informare“ zurückführt, dient jede Sendung, die Informationen, seien sie nun politischer, kultureller oder wissenschaftlicher Natur, weiterleitet, der „Bildung“.

Bilden bedeutet aber doch mehr als lediglich informieren. Und in der Vermittlung einer Bildung, die zum richtungweisenden Instrument für das Individuum wird, müßte das neue, erweiterte Aufgabengebiet der Massenmedien liegen.

Versuche im Ausland

In unseren Nachbarländern hat man der Erkenntnis, daß das Femsehen die Funktion einer Lebenshilfe, besonders bezogen auf den beruflichen Existenzkampf, einnehmenkann, schon früher Rechnung getragen. So gibt es in England via Bildschirm die Möglichkeit eines Universitätsstudiums, bekannt als open university; in Deutschland kann man im sogenannten Telekolleg Mittelschulwissen nachholen, in Italien gibt es eine „Tele-Scuola“. Diese Länder haben eine Anregung des Europarates aufgegriffen, dahingehend, daß die Zusammenarbeit zwischen Rundfunk und Erziehungseinrichtungen in einer Institution etabliert werden sollte, die jedem zugänglich ist, der davon Gebrauch machen will. In den genannten Ländern zeigte sich mittlerweile, daß ein nicht zu übersehender Teil der Bevölkerung sehr wohl gewillt ist, diese Institutionen zu nützen. So hat die open university, die im Jänner 1971 in Aktion trat, bereits die stolze Zahl von 25.000 Hörern aufzuweisen. Zum bayrischen Telekolleg meldeten sich 30.000 Interessenten.

Muster: EDV

Wie ist nun die Situation in Österreich? Im Jahre 1968 rief Generalintendant Bacher einen Arbeitskreis für Bildungsfernsehen ins Leben, in dem Medien- und Unterrichtsexperten prinzipielle Probleme eines institutionalisierten Bildungsprogram-mes diskutierten. Diese Art von Programm umfaßt systematisch Lehrgänge, die außer der Darbietung im Medium die Verwendung von Begleitmaterialien umfassen, die nach Methoden des Fernunterrichts und zum Teil des programmierten Unterrichts eingesetzt werden. Außerdem sind Zusammenkünfte der interessierten Teilnehmer zum Zweck von Gruppenunterweisungen und Aussprachen mit Lehrern — sogenannten Tutoren — notwendig.

Am Ende eines derartigen Lehrganges ist dem Hörer dann die Möglichkeit zur Ablegung einer Prüfung zur Erlangung eines Zertifikates gegeben. Diese Form von Bildungsprogrammen macht natürlich eine enge Zusammenarbeit zwischen ORF und Unterrichtsministerium notwendig.

Aus dieser Kooperation entstanden bereits verschiedene Lehrgänge, wie zum Beispiel die Serie „Richtiges Deutsch“ oder „Erziehen, Lehren und Lernen“, die mit viel Erfolg, allerdings nur über den Hörfunk, ausgestrahlt wurden.

Der erste Versuch dieser Art irn Fernsehen war der EDV-Kurs, eine Einführung in die Elektronische Datenverarbeitung, die in Deutschland eingekauft worden war. 11.000 Personen etwa kauften sich das Begleitbuch, etwas mehr als 8000 Interessierte meldeten sich zum Kurs an, an der Schlußprüfung allerdings nahmen nur noch etwa 4000 teil. Das weist zwar auf ein relativ großes „drop-out“ hin, dennoch bleibt zu bedenken, daß innerhalb von 26 Wochen eine Anzahl von Menschen, die ungefähr der Bevölkerung einer mittleren Kleinstadt entspricht, mit den Grundlagen der Computertechnik vertraut gemacht wurde. Das allein wäre Grund genug, auf dieser Ebene fortzusetzen.

Pläne dazu liegen schon in den Schreibtischladen. Projektiert ist ein Multi-Media-System, Arbeitstitel: „ORF-Akademde.“ Die Bildungsprogramme des ORF müßten dabei in ein nach allen Seiten offenes und durchlässiges System von Bildungseinrichtungen gestellt werden und selbst als ein solches offenes System charakterisiert sein. Man denkt im ORF an eine enge Zusammenarbeit mit dem Unterrichtsministerium, mit den verschiedenen Institutionen der Volksbildung, mit Verlagen, Kammern, Interessenverbänden, und den Vertretern von Kultur und Wissenschaft.

Darüber hinaus sollen diese Sendungen womöglich nach dem Baukastenprinzip gestaltet werden; das heißt, daß ein Kurs an den anderen anschließen soll, so daß es in Zukunft für Erwachsene mit Hauptschulabschluß zum Beispiel möglich werden könnte, via Medienverbund die Mittlere Reife, anschließend die Matura zu erlangen. Nach Ende eines Lehrganges wäre also dem Hörer die Möglichkeit gegeben, in das nächsthöhere Bildungsniveau aufzusteigen.

Prinzipiell hätte das institutionalisierte Bildungsfernsehen drei Bereiche zu berücksichtigen: die Grundausbildung, die Berufsweiterbildung und eventuell sogar die Hochschulbildung.

Seit 1970 existiert ein Erlaß des Bundesrninisteriums für Unterricht und Kunst, der Teilnehmer der Rundfunk- und Fernsehkurse berechtigt, außerordentliche Prüfungen abzulegen und so gültige Zeugnisse zu erwerben. Die Aufgaben einer kompetenten Bildungsforschung wäre es nun, sowohl inhaltliche Schwerpunkte als auch didaktische Hinweise für die Programmacher anzubieten. Das Bildungsfernsehen soll ja kein Minderheitenprogramm darstellen, sondern herausfinden, mit welchen Wissensgebieten man den Bedürfnissen einer jeweils möglichst großen Gruppe der Bevölkerung entgegenkommt.

Die Konzeption — ein multimediales Bildungssystem, das technische, also massenmediale Übermittlung mit dem persönlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis, allerdings in neuer Sicht, integral verbindet und ergänzt, verspricht einiges. In dem Maße, in dem die traditionellen Bildungswege der Schule von Rundfunk und Fernsehen bereichert werden, soll mit dem Hauptakzent auf diesen Medien das Bildungsangebot und damit die Fortbildungschance prolongiert werden. In einer weit umfassenderen Sicht entwickelt sich so eigentlich ein neues „Ganzheitsmodell“. Ziel müßte es sein, dem Einzelnen in einer Epoche der vielzitierten Bildungs- und Informationsexplosion beizustehen, über den Weg der Massenmedien einen relevanten Beitrag zur Lösung der Bildungskrise der Gegenwart und zur Konstituierung der Bildungsgesellschaft von morgen zu leisten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung