Pilze - © Foto: Alison Pouliot / Ullstei

Merlin Sheldrake: Pilze im „Wood Wide Web“

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Merlin Sheldrake erforscht das verborgene Leben der Pilze. Der britische Biologe über Einsichten in eine atemberaubende Welt – und die Lehren, die aus dem Boden kommen.

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Merlin Sheldrake erforscht das verborgene Leben der Pilze. Der britische Biologe über Einsichten in eine atemberaubende Welt – und die Lehren, die aus dem Boden kommen.

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Merlin Sheldrake ist der Sohn des englischen Biochemikers Rupert Sheldrake, der mit seiner umstrittenen Hypothese eines Gedächtnisses der Natur Bekanntheit erlangt hat. Merlin promovierte in tropischer Ökologie an der Universität Cambridge, nachdem er in Panama unterirdische Pilznetzwerke im Regenwald erforscht hatte. Sein populärwissenschaftliches Buch „Verwobenes Leben“ (Orig. „Entangled Life“, 2020) ist letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Der Bestseller wurde im englischsprachigen Raum mehrfach ausgezeichnet. Sheldrake forscht heute an der Vrije Universität in Amsterdam und ist im Beratergremium der „Fungi Foundation“, einer Organisation zur Erforschung von Pilzen und deren biotechnischen Anwendungen. Zudem engagiert er sich bei der „Society for the Protection of Underground Networks“ (SPUN) für den weltweiten Schutz der Mikrobennetzwerke im Boden.

DIE FURCHE: Der Boden ist zum Teil eine völlig neue Welt für die Wissenschaft. Was waren für Sie hier die wichtigsten Erkenntnisse der letzten Zeit?
Merlin Sheldrake: Die Einsicht, dass der Boden ein gewaltiger Lebensraum ist, erschaffen und bewohnt von unzähligen Organismen: Er ist gewissermaßen der Darm des Planeten, das Korallenriff unserer Biosphäre. Früher ging man davon aus, dass der Boden so gut wie leblos ist. Das hat auch unsere Vorstellungen von Landwirtschaft geleitet: deshalb der exzessive Einsatz von chemischen Düngern, Fungiziden und schweren Geräten, die das Leben im Boden zerstören. Das Ganze ist aber nicht nur ein biologisches, sondern auch ein politisches und wirtschaftliches Problem. Denken Sie nur an das Lobbying der Konzerne und die Macht der Supermärkte bezüglich des Warenangebots. Die Vorstellung eines leblosen Bodens liegt an der Wurzel der aktuell drängenden Umweltkrisen. Das heißt: Die neuen Erkenntnisse zur Mikroökologie unter der Erde haben jetzt das Potenzial, viele unserer Verhaltensweisen zu verändern.

DIE FURCHE: In den letzten Jahren gab es faszinierende Forschung zum „Wood Wide Web“, dem unterirdischen Netzwerk aus Bäumen, Pilzen und anderen Mikroorganismen. Man stößt dabei auf ganz unterschiedliche Deutungen: Die einen sehen darin die Prinzipien des kapitalistischen Marktes, die anderen erkennen eine Solidarwirtschaft. Und es gibt das Bild des Feudalismus, wo sich Bäume und Pilze ihre pflanzlichen „Arbeitskräfte“ halten. Was trifft für Sie am ehesten zu?
Sheldrake: Diese Metaphern haben alles Mögliche anzubieten. Wir müssen Analogien verwenden, da wir diese komplizierten Netzwerke unter der Erde nicht direkt erfassen können. Sie sind außerhalb unserer Reichweite; und wir müssen die Daten irgendwie interpretieren. Jedes dieser Bilder erfasst wohl einen Teil der Realität. Aus einer ganzheitlichen Perspektive muss man sagen, dass das „Wood Wide Web“ weder nach dem Prinzip der Konkurrenz noch der Kooperation funktioniert. Die beteiligten Organismen agieren zwischen diesen Polen: Manchmal gibt der Pilz mehr, als er bekommt; dann wiederum sind es die Bäume. Das ist vergleichbar mit einer Familie oder mit einer Band in einem Tourbus, wo ja auch meist abwechselnd Kooperation und Konkurrenz vorherrschend sind.

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DIE FURCHE: Der Mensch lebt in intimer Gemeinschaft mit unzähligen Mikroorganismen. Im Körper wimmelt es von Bakterien und Pilzen. Diese Mitbewohner haben bislang ungeahnten Einfluss auf unsere Gesundheit, Fitness und Stimmung. Ganz generell: Wann sind Mikroben nützlich – und wie werden sie schädlich?
Sheldrake:
Im Darm können Mikroben zu einer lebensgefährlichen Infektion führen, wenn sie in den Blutkreislauf gelangen. Früher dachte man, dass unser Körper wie eine Burg ist, die gelegentlich von Krankheitserregern gestürmt wird. Das aber ist eine zu simple Sichtweise. Tatsächlich wird es dann gefährlich, wenn sich im Ökosystem etwas verändert und bestimmte Organismen von anderen nicht mehr in Schach gehalten werden können. Es ist also eine Sache des Gleichgewichts. Wenn Pflanzen gestresst sind, werden sie viel leichter von Schädlingen heimgesucht. Weniger Stress bedeutet umgekehrt größeren Schutz. Es liegt also weniger an einzelnen Krankheitserregern als vielmehr am gesamten Ökosystem. Erst der konstante Dialog mit Bakterien und Pilzen ermöglicht das Gedeihen der Pflanzen.

DIE FURCHE: Die Bodenversiegelung ist heute ein riesiges Problem: In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass weltweit eine Bodenfläche von ca. 30 Fußballfeldern pro Minute verloren geht. Was kann man dagegen tun?
Sheldrake:
Für dieses Problem gibt es viele Gründe wie Erosion, Abholzung von Wäldern etc. Insofern braucht es wohl eine Kombination von gegenläufigen Strategien. Neben der Einrichtung von Naturschutzgebieten empfehlen sich weitere Ansätze wie die Erhöhung des Anteils nicht bewirtschafteten Lands oder ein verändertes Modell von Landwirtschaft, das weniger Schaden im Boden anrichtet – zum Beispiel durch die Kultivierung von mehrjährigen Pflanzensorten.

Das Netzwerk aus Bäumen und Pilzen ist vergleichbar mit einer Familie oder mit einer Band auf Tour, wo abwechselnd Kooperation und Konkurrenz vorherrschend sind.

Merlin Sheldrake
Pilze - Ein Mykorrhiza-Pilz wächst in eine Pflanzenwurzel ein. Das Wurzelinnere ist dicht vom Pilz besiedelt (Pilz in Rot, Wurzelrand in Blau; Maßskala: 50 Mikrometer). - © Foto: Merlin Sheldrake / Ullstein
© Foto: Merlin Sheldrake / Ullstein

Ein Mykorrhiza-Pilz wächst in eine Pflanzenwurzel ein. Das Wurzelinnere ist dicht vom Pilz besiedelt (Pilz in Rot, Wurzelrand in Blau; Maßskala: 50 Mikrometer).

DIE FURCHE: Sie haben viele futuristische Ansätze beschrieben, wie Pilze bei der Bewältigung von dringlichen Umweltproblemen helfen könnten...
Sheldrake:
Die ganze lange Geschichte des Lebens wurde von Pilzen geprägt, und das wird sicherlich auch künftig so sein. Die technische Verwendung von Pilzen läuft heute unter dem Begriff der „Mykofabrikation“: Da gibt es schon viele Beispiele; Pilze werden etwa für Medikamente oder chemische Umwandlungsprozesse in der Industrie erfolgreich eingesetzt. Das Potenzial ist riesengroß – wer weiß, wohin uns diese Ansätze noch führen werden!

DIE FURCHE: Manche Forscher betonen, dass Kinder zur Gesundheitsförderung ausreichende „Zeit im Schmutz“ („dirt time“) benötigen, also viel direkten Kontakt mit dem Boden haben sollten. Müssten wir demnach öfter in der Erde wühlen?
Sheldrake:
Tatsächlich gibt es viele Studien, wonach eine Reihe von medizinischen Problemen dadurch entsteht, dass Kinder zu wenig „geerdet“ sind. Das bedeutet, dass sie kaum noch dem Kontakt mit Mikroorganismen ausgesetzt sind. Sie haben keine Haustiere und graben nicht mehr im Boden. Es wäre gut, diesen Kontakt wieder herzustellen! Generell verbringen Kinder zu wenig Zeit in der Natur, insbesondere wenn sie in einem urbanen Umfeld aufwachsen oder fast den ganzen Tag in der Klasse hocken müssen.

Scheldrake - © Foto: Hanna-Katrina Jędrosz

Merlin Sheldrake

Merlin promovierte in tropischer Ökologie an der Universität Cambridge, nachdem er in Panama unterirdische Pilznetzwerke im Regenwald erforscht hatte. Sein populärwissenschaftliches Buch „Verwobenes Leben“ (Orig. „Entangled Life“, 2020) ist letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Der Bestseller wurde im englischsprachigen Raum mehrfach ausgezeichnet. Sheldrake forscht heute an der Vrije Universität in Amsterdam und ist im Beratergremium der „Fungi Foundation“, einer Organisation zur Erforschung von Pilzen und deren biotechnischen Anwendungen.

Merlin promovierte in tropischer Ökologie an der Universität Cambridge, nachdem er in Panama unterirdische Pilznetzwerke im Regenwald erforscht hatte. Sein populärwissenschaftliches Buch „Verwobenes Leben“ (Orig. „Entangled Life“, 2020) ist letztes Jahr auf Deutsch erschienen. Der Bestseller wurde im englischsprachigen Raum mehrfach ausgezeichnet. Sheldrake forscht heute an der Vrije Universität in Amsterdam und ist im Beratergremium der „Fungi Foundation“, einer Organisation zur Erforschung von Pilzen und deren biotechnischen Anwendungen.

DIE FURCHE: Wie war das bei Ihnen – hatten Sie genügend Zeit in der Natur?
Sheldrake:
Ich bin glücklich, dass ich so viel im Freien spielen konnte. Mein biologisches Interesse entwickelte sich von klein auf, ganz organisch. Schon als Kind staunte ich darüber, wie sich der Küchenabfall auf dem Komposthaufen zu Erde verwandelt. Als ich älter wurde, begann mich die Symbiose zwischen Pilzen und Pflanzen zu faszinieren. Bald schon landete ich bei den Fragestellungen, die mich auch heute noch wissenschaftlich beschäftigen.

DIE FURCHE: In Ihrem Buch „Verwobenes Leben“ haben Sie immer wieder eigene Erfahrungen mit Pilzen einfließen lassen. Sollten Naturwissenschafter, die ja einem strengen Anspruch von Objektivität verpflichtet sind, stärker Ihren persönlichen Zugang zur Forschung offenlegen?
Sheldrake:
Ich glaube, dass das ohnehin passiert. Es ist auch für Naturwissenschafter kaum vorstellbar, dass sie rein rationale Wesen wären. Auch sie folgen ihrer Imagination, sind oft verspielt und haben einen kreativen Zugang zur Welt. Es ist ein großes Missverständnis, Wissenschaft als rein logisches Unterfangen zu verstehen. Unsere persönlichen Beziehungen, das kulturelle Umfeld, die politische Situation – all das wirkt doch in die wissenschaftliche Praxis hinein!

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