Thema: Abraham
Abraham ist eine vielfach idealisierte, aber laut biblischem Zeugnis keine ideale Gestalt. Schwerreich war er (Gen 13,2), aber von allseitiger Großzügigkeit steht nichts geschrieben. Verheiratet war er, mit Sara (und anderen). Weil die ziemlich schön gewesen sein soll, wurde sie im Harem des Pharao gewünscht, wohin sie Abraham auch gehen ließ, aus Angst um sein Leben (Gen 12,10–15). Königlich belohnt wurde er für diesen Betrug (Gen 12, 16), erst später des Landes verwiesen, als man ihm auf die Schliche gekommen war (Gen 12, 17–20). Und als Sara dann endlich ein Kind bekam, einen Sohn sogar, den Isaak (Gen 21), da hätte er den um ein Haar umgebracht (Gen 22, 1–14). Was Sara dazu meinte, ist uns nicht überliefert. Und sie, die Frau? Auch nicht gerade ein Ausbund an konventioneller Nächstenliebe. Ihre Nebenfrau Hagar hat sie in die Wüste geschickt (Gen 16,6). Warum? Aus Neid, weil Hagar fruchtbar war und vielleicht auch nicht hässlich?
Ich mag unvollkommene Vorfahrinnen und Vorfahren. Sie geben mir die Freiheit, selber auch nur manchmal perfekt sein zu müssen. Mein Vater war aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Gebete fand er trotzdem schön. Meine Mutter, dem Dunstkreis des schwäbischen Pietismus entsprungen, blieb bis zuletzt eine unverbesserliche Zweiflerin. Und ich? Suche als verbesserungsfähiger Mensch unter verbesserungsfähigen Menschen meinen Weg in diesem schwer erklärlichen Dasein. Mal bin ich gut, mal weniger, je nachdem.
Es könnte eine lohnende Aufgabe für alle Abrahamitinnen und Saraiten sein, sich mit den weniger schönen Seiten unserer gemeinsamen Erzeltern zu befassen. Vielleicht fällt es uns dann ja leichter, uns auch gegenseitig zu verzeihen, wenn wir einmal nicht so toll sind, wie wir gerne wären.
* Der Autor ist Germanistin und evangelische Theologin. Sie lebt in der Ostschweiz
