Am Tag, als der Hagel kam

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Petroplawilsk heißt die fiktive Stadt, in der die oligarchisch geprägte Zukunft längst begonnen hat: Dorthin führt der kritische Debütroman "Das gläserne Meer" des US-amerikanischen Autors Josh Weil.

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Petroplawilsk heißt die fiktive Stadt, in der die oligarchisch geprägte Zukunft längst begonnen hat: Dorthin führt der kritische Debütroman "Das gläserne Meer" des US-amerikanischen Autors Josh Weil.

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Kleinteilig ist nichts an diesem Roman. Der 1976 geborene und in der Sierra Nevada lebende Josh Weil, bislang durch Novellen hervorgetreten, geht in seinem Debütroman aufs Ganze. Auf über 650 eng bedruckten Seiten wagt er sich in eine nahe russische Zukunft, in das Jahr 2020 etwa, und entwirft ein detailreiches, eher dys-als utopisches Szenario, das Gesellschafts- und Zivilisationskritik in höchst fantasievolle Bilder packt.

Petroplawilsk heißt die fiktive Stadt, in der die oligarchisch geprägte Zukunft längst begonnen hat. Die Machthaber sind eifrig dabei, die oft störende Natur zu unterwerfen und eine sich immer weiter ausdehnende Zone der Helligkeit zu schaffen. Dank immenser Sonnenspiegel, der Serkala, ist es ihnen gelungen, das Gewächshaus der Oranz eria, das "gläserne Meer", ins kaum zu Überblickende auszudehnen und die Dunkelheit zu vertreiben. Es herrscht permanente Helligkeit, und Pflanzenund Tierwelt müssen sich den neuen Gegebenheiten unterordnen.

Zum Glück hat sich Josh Weil nicht darauf beschränkt, seinen mahnenden Zeigefinger zu erheben und einen kapitalismuskritischen Roman zu schreiben, der vor der Ausbeutung der Natur warnt und das Allmachtstreben der geldgierigen Menschen geißelt. Auf geschickte Weise verquickt er seine Geschichte des Größenwahns mit dem Schicksal zweier Zwillingsbrüder: Jarik und Dima. Beide, Kinder eines Fischers und einer Näherin, sind auf dem Land aufgewachsen, eingehüllt in die Vertrauen spendenden Märchen, die ihnen ein Onkel erzählte. Und beide schlagen ganz unterschiedliche Lebenswege ein, obgleich sie anfangs gemeinsam im Dienste der Gewächshauserweiterung arbeiten. Doch während Jarik heiratet, Kinder hat, in der Hierarchie der Firma aufsteigt und sogar Verbindungen mit dem legendären Milliardär Basarow pflegt, klinkt sich sein Bruder aus der Welt des Neuen aus.

Er schließt sich Protestgruppen an, trägt öffentlich aus Puschkins Versepos "Ruslan und Ljudmila" vor, verwahrlost zusehends und sorgt für seine langsame verkümmernde Mutter Galina. Entfremdung unter den Zwillingsbrüdern setzt ein, denn ihre Interessen divergieren.

So kämpfen hier Anschauungen gegeneinander. Jarik verschreibt sich dem Oranz eria-Projekt, und Dima träumt davon, auf den Bauernhof der Kindheit zurückzukehren - eine Sehnsucht, die Basarow als bloßes Wetterleuchten der "nostalgischen russischen Seele" sieht.

Gespickt mit Anspielungen

Natürlich bleiben die Katastrophen nicht aus. Hagelstürme zerstören die gläsernen Dächer, die verloren geglaubte Dunkelheit kehrt plötzlich nach Petroplawilsk zurück, und Jarik soll als Werbeikone für das große "Experiment", den Wiederaufbau der Oranz eria, eingesetzt werden. Damit nicht genug: Josh Weils Roman ist gespickt mit expliziten und impliziten Anspielungen auf die russische Kultur. Turgenjew, Nabokov, Samjatin - sie alle finden sich an Puschkins Seite in diesem Reigen wieder und grundieren das Treiben der Oligarchen mit fast altmodisch anmutendem Kulturgut. Das alles ist mit Fabulierlust erzählt, zumal Weil Freude daran hat, sich der Natur (und der Liebe) in ausführlichen Schilderungen hinzugeben - verbunden mit dem Risiko, den metaphorischer Überschwang in sich birgt. Wenn Gärten "knirschend zum Stehen" kommen, in Feldfrüchten "Verwirrung" wächst und die Gerste vergisst, "Fruchtstände auszubilden", hätte man dem Autor ein wenig mehr von der Zurückhaltung gewünscht, die er in seinen schmalen Novellen walten lässt.

Unentschlossen wirkt "Das gläserne Meer", wo es um die zeitgeschichtliche Verortung seiner Geschichte geht. Zwar ist summarisch von "Gorbatschow, Glasnost, Perestroika, Jahre der Depression, Geldentwertung" die Rede, zwar fällt der Name Michail Chodorkowskis und werden allerhand ideologische Strömungen genannt, doch letztlich kümmert sich Josh Weil wenig um das konkrete politische Geschehen.

Märchenhaft, mystifizierend

Für einen Roman, der wie gesagt in einer recht nahen Zukunft spielt, ist das unbefriedigend, zumal sich so die märchenhaften Elemente der Geschichte verstärken und das reale Russland mystifiziert wird. So ist "Das gläserne Meer" einerseits ein couragierter Roman, der für den Schrecken eines enthemmten Fortschritts beeindruckende Bilder findet -etwa als Basarow und Jarik über die Keilerjagd sprechen -und andererseits eine Fabel, die an manchen Stellen so wirkt, als solle einer amerikanischen Leserschaft die komplexe Seele Russlands nahegebracht werden.

Gibt es ein Zurück? Gibt es eine Wiederkehr der Vergangenheit? Diese Frage, die den zentralen Konflikt der Zwillingsbrüder ausmacht, findet keine abschließende Antwort, obwohl ihre Bejahung kaum mehr als wacker aufrechterhaltene Hoffnung erscheint.

Das gläserne Meer

Roman von Josh Weil

Aus dem Englischen von Stephan Kleiner

DuMont 2015

669 Seiten, geb., € 25,70

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