Auf den Gesang der anderen hören

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Die vergangene Woche war ich auf dem Land. Dort gibt es viele Einfamilienhäuser. Wer immer es sich nur irgendwie leisten kann, baut offenbar sein Einfamilienhaus. Diese Häuser schauen alle ähnlich aus. Sie bilden die Großfamilie der Einfamilienhäuser.

Auch in der Stadt werden Einfamilienhäuser gebaut. Da es aber zu teuer ist, Grund zu erwerben und ein wirkliches Haus hinzubauen, bringt der Wille zum Einfamilienhaus andere Gebilde hervor. Die Kunstwerke zum Beispiel. Sie entstehen fast ausschließlich aus dem Wunsch, eine eigene kleine Welt zu bauen. Die Künstler leben eng nebeneinander. Und weil es so viele sind, wird der Raum für diese vielen Eigenwelten knapp. Jeder möchte ausstellen, jeder möchte Aufmerksamkeit für sich. Aber wo? Und wer sollte das alles beachten? Es ist doch ein jeder viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Im Reich der Religion oder der Kirche ist es nicht anders. Der Klang eines großen Zusammenhangs ist längst schon überschrien worden vom Lärm derer, die lautstark ihre eigenen Vorstellungen verwirklichen wollen. Die Einfamilienhäuser derer, die Gott auf ihrer Seite haben und ihm ein schönes Zimmer einrichten, wachsen überall aus dem Boden. Ob es Häuser der Höhergestellten oder Häuser der einfachen Leute sind, sie sehen sich in einem alle ähnlich. Es sind Einfamilienhäuser. Jeder behauptet sein kleines Reich.

Ein alter Geiger der Wiener Philharmoniker hat mir einmal von der Arbeit mit Herbert von Karajan erzählt. Bei Aufführungen in der Staatsoper konnte es sein, dass er zu dirigieren aufhörte, den Zeigefinger an den Mund legte und auf die Sängerin oder den Sänger wies. Die Musiker sollten bei ihrem Spiel hören, wie wunderbar die anderen sangen. Nicht ins Eigene versinken, sondern hinhören auf die Musik, den Gesang der anderen.

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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