Bislang gingen, wenn ein Film in Cannes die Goldene Palme errang, die Darsteller leer aus. Als Michael Haneke 2012 den Preis für "Liebe“ erhielt, blieben Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant unausgezeichnet. Heuer war das erstmals anders: Abdellatif Kechiche wurde gemeinsam mit Adèle Exarchopoulos und Léa Sedoux vor den Vorhang gebeten. Und "Blau ist eine warme Farbe“ ist tatsächlich das exzeptionelle Werk eines exzeptionellen Regisseurs und zweier ebensolcher Schauspielerinnen.
Der Originaltitel "La vie d’Adèle, chapitres 1 & 2“ fängt das Geschehen besser ein: Adéle (Exarchopoulos) ist noch Schülerin und beginnt gerade das Leben und vor allem: die Liebe zu entdecken. Dates mit dem gleichaltrigen Thomas bahnen sich gut an, aber nach ersten sexuellen Erfahrungen beendet Adèle die Beziehung, weil etwas fehlt. Als die Schülerin aber auf die ältere Kunststudentin Emma (Sedoux) mit den blau gefärbten Haaren trifft, ist es um sie geschehen: Eine ebenso warmherzige wie leidenschaftliche Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang - und ihren Lauf. Eigentlich ein ganz altmodischer Plot, ginge es nicht um die Liebe zwischen zwei Frauen. Aber intensive wie exzessive wie zerstörte Liebe macht auch vor dem gleichen Geschlecht nicht halt …
Kechiche lässt die Zuschauer an der Leidenschaft gleichermaßen teilhaben wie an den Konflikten der Liebenden. Trotz der drei Stunden, die "Blau ist eine warme Farbe“ zumutet, umfasst der Film eben nur zwei Kapitel aus Adèles Leben. Ob dieses Leben für Leidenschaft auf Dauer einen Platz bereithält? Dieser Frage sollen sich ja schon andere Leinwandwerke gewidmet haben. Aber selten konnte ein Film trunkene Liebe derart intensiv glaubhaft machen wie dieser. Dass sich Kechiche und seine beiden Hauptdarstellerinnen auch auf die pralle Darstellung der Leidenschaft einlassen, scheint folgerichtig. Vielleicht hält ja die Erfüllung durch Liebe wirklich nur ein paar Augenblicke des Lebens lang. Aber die, erzählt dieser Film, haben es in sich. (Otto Friedrich)
Blau ist eine warme Farbe (La vie d’Adèle, chapitres 1 & 2)
F/B2013. Regie: Abdellatif Kechiche. Mit Léa Sedoux, Adèle Exarchopoulos. Thimfilm. 179 Min. Ab 20.12.
