Bedrückende Kunstblicke

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Alte Mythen und private Monologe spielen im Schauspielhaus Graz in "Merlin oder Das wüste Land" und auch beim steirischen herbst der Welt eine verzweifelte Menschheit in die Hände.

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Alte Mythen und private Monologe spielen im Schauspielhaus Graz in "Merlin oder Das wüste Land" und auch beim steirischen herbst der Welt eine verzweifelte Menschheit in die Hände.

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Am vergangenen Wochenende eröffnete das Grazer Schauspielhaus und der steirische herbst: Und sie ließen uns auf eine dunkle und tiefverschneite Menschheit blicken. Einmal ist es der Sohn des Teufels, der "Licht aus!" schreit, als er am Ende in eine wüste Weltebene blickt, das andere mal prophezeit ein Einzelgänger den Tag, an dem es so heftig schneien wird, "dass man die Bäcker und die Schornsteinfeger nicht mehr voneinander unterscheiden wird können": Einmal werden wir in Dunkelheit, ein anderes Mal im Schnee versinken. Wir werden also kaum noch zu erkennen sein, weil wir als surreale und utopielose Umrissexistenzen unser Dasein fristen werden.

Aufstieg in Textgebirge

Die neue Intendantin im Schauspielhaus, Iris Laufenberg, wählte für ihre erste Premiere "Merlin oder Das wüste Land" von Tankred Dorst (Mitarbeit Ursula Ehler), 1985 erschienen. Sie engagierte dazu den jungen deutschen Regisseur Jan-Christoph Gockel, der daraus einen kontroversiellen Abend machte, reich an Gepolter, in der Tiefe leider etwas bescheiden. Dorst ist ein Dramatiker des Palimpsestes. Jede Dorstfigur ist ja eine alte, übermalte Gestalt, die anders verhüllt schon einmal im Theaterkosmos auftauchte. Nun ist das kolossale Bühnenepos "Merlin oder Das wüste Land" von knapp 300 Seiten und beinahe 100 Szenen Umfang, im Kostüm eines großen Ritterspektakels nichts weniger als die Geschichte der Menschheit, die untergeht. Die Bewältigung dieses Untergangs ist für einen Regisseur eine Mammutaufgabe: Zu groß ist der Dorststeinbruch einen spielbaren Weg übers gesamte Textgebirge anzulegen. In Graz fand die Inszenierung den Aufstieg über eine düstere Einbaumlichtung: Rund um einen gewaltigen mammuthaften (!) Baumstamm (Bühne: Julia Kurzweg) lenkt die hölzerne Marionettengestalt Merlin (eindrucksvoll von Michael Pietsch geführt), Kind des Teufels und der frommen Frau Herzeloide (Franz Solar als Transvestitenmutter), die Geschicke der Menschen. Nicht zum Bösen befreien, sondern zum Guten führen will er sie. Mit der Tafelrunde will er die Demokratie, aus dem heiligen Gral eine sinn-und friedenstiftende Religion destillieren. Beides geht schief. Immer wieder scheitert der Teufelssohn Merlin an seinen menschlichen Versuchsobjekten, die von einem hervorragend spielenden Ensemble dargestellt werden: Evamaria Salcher als filigrane Königin Ginevra, Frederik Jan Hofman als erwählter Artus, Florian Köhler als steirischer Tischler und irrer Lancelot, Benedikt Greiner als dämonischer Mordred und Julia Gräfner in der Doppelrolle als grandios verzogenes und unschuldiges Parzifalkind und als alleinerziehende Elaine. Von all diesen Figuren verfügt allein die Figur des Parzifals über eine tiefere Kraft, die über den Bühnenraum hinausweist. Wohin? Auf die dünne Firnis der Zivilisation, die über der menschlichen Bestialität liegt? Nach beinahe vier Stunden Spielzeit ist diese abgetragen, zu aberwitzig wurde letztlich das Böse, zu spaßig das Gewaltsame gezeigt.

Katholisch gepeinigte Satzgebilde

Als pathetischen Schutzanstrich der Zivilisation inszenierte der steirische herbst in seiner Eröffnungsveranstaltung "Specter of the Gardenia oder Der Tag wird kommen" seinen obsessiven Versuch einer Weltanklage. Den Text dazu schrieb Josef Winkler, die Musik komponierte Johannes Maria Staud. Zum dritten Standbein wurden überdimensionale Spiegelscherben, über die die Regisseurin Sophia Simitzis surreale Filmsequenzen von Franziska Sauer laufen ließ.

Der diesjährige steirische herbst, der unter dem Leitmotiv "Back to the Future - Relikte, Spuren und andere Hinterlassenschaften" steht und für die nächsten Wochen intensiv zurück und nach vorne blicken wird, bezeichnet dieses künstlerische Experiment als "installative Konzertperformance". Was auch immer das ist: Nach 90 Minuten "Specter of the Gardenia" konnte man die katholisch gepeinigten Satzgebilde, das traumatisch tänzelnde Lamento an die "Aufpasser unserer Tragödien" (fulminant von Johannes Silberschneider vorgetragen), die extrem hyperaktiven Rhythmen (Dirigent Emilio Pomàrico leitete das Ensemble Modern) unter zuckenden Schwarzweiß-Sequenzen, die wiederum eine andere Botschaft vermittelten, nicht mehr auseinanderklauben. Zu undurchschaubar und zufällig breiteten sich die Bilder über die Bühne aus. Als müsste die Titel gebende gleichnamige Skulptur des französischen Surrealisten Marcel Jean - ein schwarzer Frauenkopf mit Reißverschlüssen statt Augen und einem Filmstreifen um den Hals - an ihren intimsten Innenbildern ersticken.

Merlin oder das wüste Land

Schauspielhaus Graz 14., 15., 20., Okt.

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